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Kirche in 1Live | 29.03.2018 | floatend Uhr
Platz für mich
Ein bisschen bereue ich, dass ich zugesagt habe. Meine Mitbewohner singen im Uni-Chor. Johann Sebastian Bachs Johannespassion. Musste ich auch googeln. Da geht es um die Kreuzigung. Von Jesus also. Ziemlich depri, die Geschichte. Und dann dauert sie so elend lang. Ich blättere im Programmheft, da sind die Texte abgedruckt. Furchtbar. So eine alte Sprache, überall Blut und Sterben… Wenn man den ganzen Kram glaubt – warum macht man dann nicht ein bisschen fröhlichere Musik? Ich gucke mich im halbdunklen Konzertsaal um. Ein paar Leuten scheint es ähnlich zu gehen wie mir. Die ältere Frau neben mir ist da ganz anders drauf. Wie gebannt starrt sie auf die Bühne, ihre Lippen bewegen sich, sie spricht alle Texte lautlos mit. Nach einer gefühlten Ewigkeit setzt sie sich ganz gerade hin. Und spricht so laut mit, dass ich sie verstehen kann: „Es stand aber bei dem Kreuz Jesu seine Mutter…“ Dann bricht sie ab und weint. Ich suche nach einem Taschentuch, aber sie winkt ab. Kurz drauf ist es zu Ende. Nach dem Applaus dreht sie sich zu mir. Holt ein altes, abgegriffenes Foto aus der Tasche. Ein junger Mann, vielleicht mein Alter. „Andreas, mein Sohn“, sagt sie. „Vor zwölf Jahren ist er gestorben, Leukämie. Ich saß an seinem Bett.“ Dann blickt sie Richtung Bühne. Sagt längere Zeit nichts. Und dann: „Die Maria, die hat ihren auch Sohn sterben sehen. Deswegen ist mir die Geschichte wichtig. Da ist Platz für mich.“ Vorsichtig steckt sie das Foto wieder ein, drückt mir die Hand, steht auf und geht.
