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Das Geistliche Wort | 16.12.2018 | 08:35 Uhr

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Die Liebe geht zu Fuß

„Die Liebe geht zu Fuß“ - Im Advent unterwegs mit Franz Hessel, Robert Walser und Kurt Marti

Autor:

Guten Morgen, liebe Hörerin, lieber Hörer.

Gut zu Fuß waren sie anscheinend alle Drei: Franz Hessel, Robert Walser und Kurt Marti. Und alle Drei waren sie Schriftsteller.

Franz Hessel, geboren 1880 in Stettin, schrieb zahlreiche Gedichte, Prosabände und Romane, er war auch Lektor und Übersetzer. Nach dem zweiten Weltkrieg etwas in Vergessenheit geraten, wurde er in den 1980er Jahren wiederentdeckt.

Robert Walser, 1878 in Biel im Kanton Bern geboren, lebte bis 1913 in Berlin. Hier sind alle seine Romane entstanden. In seiner späteren Berner Zeit schreibt er zahlreiche Prosastücke und Gedichte.

Der Schweizer Kurt Marti, geboren 1921 war nicht nur Schriftsteller, sondern auch evangelischer Pfarrer in Bern – ein „Theopoet“, wie er sich selbst genannt hat: ein „Gottes – Dichter“.

Alle drei Autoren liebten es spazieren zu gehen und sie haben geschrieben – jeder von ihnen Beides, sozusagen „im Verbund“. Nach dem Tod von Kurt Marti im vergangenen Jahr hat sein Verlag ihn geehrt mit einer erneuten Auswahl seiner Gedichte. Sie trägt den Titel: „Die Liebe geht zu Fuß“. (1) Der Titel könnte von Kurt Marti selber stammen, aber er trifft ebenso auf Franz Hessel wie auf Robert Walser zu: sie verbindet nicht nur die Liebe zum Spazierengehen, sondern auch die Erfahrung, dass die Liebe dabei Schritt für Schritt wächst – dass Liebe den Spaziergängern sozusagen auf dem Fuße folgt. Bei Franz Hessel die Liebe zum Berlin der 20er Jahre, bei Robert Walser die Liebe zum Leben und bei Kurt Marti Gottes Liebe wie die Liebe zur Schöpfung. Hören wir, was sie geschrieben haben über ihre „Liebe zu Fuß“.

Musik 1: Heinz Rudolf Kunze: Gehen. CD: Halt, Track 13. Label: WEA; LC 04281

Autor:

Robert Walser hat 1917 die Erzählung „Der Spaziergang“ veröffentlicht. Darin bekennt er sich leidenschaftlich als Fußgänger. Er schreibt:

Sprecher:

Spazieren muß ich unbedingt, um mich zu beleben und um die Verbindung mit der lebendigen Welt aufrechtzuerhalten. … Ohne Spazieren wäre ich tot, und mein Beruf, den ich leidenschaftlich verrichte, wäre vernichtet. ... Ohne Spazieren würde ich ja keine Beobachtungen und gar keine Studien machen können. ... Auf einem schönen und weitschweifigen Spaziergang fallen mir tausend brauchbare nützliche Gedanken ein. Zu Hause eingeschlossen, würde ich elendiglich verkommen und verdorren. Spazieren ist für mich nicht nur gesund und schön, sondern auch dienlich und nützlich. (2)

Autor:

An anderer Stelle erhebt Walser den regelmäßigen „Spaziergänger“ sogar an die Seite der Wissenschaft. Wer mit Hingabe spazieren geht, treibt Studien, macht Beobachtungen, denkt nach. Spazierengehen hat deshalb nichts zu tun mit leichtfertigem Bummeln oder unnützem Herumstreichen, so Walser. (3)

Dass Spaziergänger oft mit solchen Vorurteilen zu kämpfen haben, beschreibt Franz Hessel in seinem Buch: „Spazieren in Berlin“ von 1929.

Sprecher:

Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspült von der Eile der andern, es ist ein Bad in der Brandung. Aber meine lieben Berliner Mitbürger machen einem das nicht leicht, wenn man ihnen auch noch so geschickt ausbiegt. Ich bekomme immer mißtrauische Blicke ab, wenn ich versuche, zwischen den Geschäften zu flanieren. Ich glaube, man hält mich für einen Taschendieb. (4)

Autor:

Franz Hessel beschreibt seine Arbeit als professioneller Flaneur in der Großstadt. Beim Lesen ahnt man, wie genau, wie vielfältig und anspruchsvoll diese Arbeit ist:

Sprecher:

Flanieren ist eine Art Lektüre der Straße, wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Caféterrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten

Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches ergeben. (5)

Autor:

Für Franz Hessel wird die Stadt so zum Denkmal. Er bedenkt die Schönheit des Lebens. Und das Denkmal inspiriert ihn dazu.

Musik 2: Mark Knopfler: Just a Boy Away from Home. CD: Down the Road Wherever (Deluxe), Track 4. Komponist: Mark Knopfler, Richard Rogers & Oscar Hammerstein II, Label: EMI (Universal Music), LC: 06646

Autor:

Spazierengehen kann anstrengend und beglückend sein. Das hat Kurt Marti in der Schweiz ähnlich erlebt wie Robert Walser. Am 14. Juni 1983 notiert Kurt Marti in seinem „Tagebuch mit Bäumen“:

Sprecher:

In einer Landschaft, gleichzeitig aber in Gedanken wie in einer zweiten inneren Landschaft gehen. Langsam tauchen Erinnerungen, Ängste, Wünsche, Bilder auf, um sich ebenso langsam wieder zu entfernen. Gehen, weiter gehen, um von … alten auf neue Gedanken zu kommen. Let's go, Let's go! Stimmungen, Bilder, Gefühle vermengen sich vielformig, wolkenleicht. Meine Gehbewegung, einsam und unablässig: ein Versuch vielleicht, neue Gefühle und durch sie neue Gedanken oder Gedankensprengsel aufzuscheuchen? In der Regel aber: nichts neues unter der Schädeldecke! Gescheiter wärs, ganz Auge zu werden. …

Trotzdem wills mir nie gelingen, ganz nur Auge zu sein …

Andauernd lenkt mich eine zweite innere Gedanken – Landschaft vom Wahrgenommenen ab. (6)

Autor:

Mir gefallen diese Gedanken und Beobachtungen; denn mir geht es manchmal ähnlich. Zwar erlaube ich mir leider nur selten ausgedehnte Spaziergänge, weil ich meine, immer dabei ein Ziel, eine Aufgabe haben zu müssen. Aber ich weiß, dass es mir gut tut, einfach so zu spazieren. Es bereichert auch meinen Kopf, „mit den Füßen zu denken“ – sozusagen.

Kurt Marti hat dabei sogar eine Theologie „zu Fuß“ entwickelt. Schon in seinem „politischen Tagebuch“ schrieb er in Bern unter dem 12. Juni 1972:

Sprecher:

Mir ist letzthin aufgefallen, wie zentral der Begriff „Weg“ in der Bibel ist: Gott ist mit Menschen, Menschen sind miteinander, Jesus ist mit seinen Jüngern auf dem Weg, unterwegs. Der johanneische Christus sagt: „Ich bin der Weg.“ Der Weg! Also ein Geschehen, ein Prozeß – aber nicht: „Ich bin der Standpunkt.“ Nicht stehenbleiben auf einem Punkt, sondern gehen. (7)

Musik 2 (s.o.)

Autor:

„Bereitet dem HERRN den Weg“ - so steht es heute über diesem Sonntag im Advent. Der zweite Jesaja, ein Prophet, hat einst das Volk Israel so aufgefordert, aufmerksam zu sein, mit Gott zu rechnen, Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Also: Wegbereiter sollen wir sein. Wegbereiter, damit Gott bei uns ankommt. Aber wie geht das? Vielleicht auch so, dass wir öfter zu Fußgängern werden, einen Weg unter die Füße nehmen, leichte und steinige Wege spüren. Dass wir uns dabei langsam bewegen mit allen unseren Sinnen und so unsere Umwelt mit jedem Schritt wahrnehmen.

Der Theologe Kurt Marti ist über die Schweiz hinaus besonders durch Gedichte bekanntgeworden, die er „Leichenreden“ genannt hat. (8) Zugrunde liegen zahlreiche Trauerfeiern und Grabreden. Die Gedichte hat er jedoch nicht für gottesdienstliche Zwecke geschrieben, sondern um zu einem bewußten Leben anzuleiten. Seinen Worten hat Kurt Marti auch Texte anderer zugeordnet. Ein solcher „Kontext“ ist z.B. das Statement einer jungen Frau. Sie sagt:

Sprecherin:

Ich sehe seither alles ganz anders. Ich gehe manchmal durch die Straßen und schaue mir jedes Tor an, jeden Stein, jeden Eingang. Ich nehme diese Anblicke in mich auf, so intensiv, als ob ich sie nie wieder hergeben oder vergessen wollte. (9)

Autor:

In diesen Worten spüre ich eine intensive und genaue Wahrnehmung mit allen Sinnen. Tatsächlich stammt das Zitat von einer Frau, die im Fernsehen darüber gesprochen hat, dass sie an Krebs erkrankt ist:

„Ich sehe seither alles ganz anders ...“

Ja, das ist wohl so. Aber – so frage ich – braucht es wirklich erst eine lebensbedrohende Krankheit, um mit allen Sinnen zu leben, um alles in mich aufzunehmen, als ob ich es nie mehr vergessen wollte?

Auch das Gedicht von Kurt Marti fordert dazu auf.

Es beginnt so:

Sprecher:

augen wir haben noch augen

braucht eure augen

und danket gott

weil ihr noch sehen könnt

ohren wir haben noch ohren

braucht eure ohren

und danket gott

weil ihr noch hören könnt (10)

Autor:

Kurt Marti wiederholt in diesem Gedicht sieben Strophen lang die immer gleiche Form, der letzten Strophe fügt er noch einen einzigen Satz hinzu.

Sprecher:

beine wir haben noch beine

braucht eure beine

und danket gott

weil ihr noch gehen könnt

hier der tote geht nicht mehr (11).

Autor:

„Die Liebe geht zu Fuß“.

Nach diesem Motto waren wir heute unterwegs mit den Schriftstellern Franz Hessel, Robert Walser und Kurt Marti.

Vielleicht machen auch Sie heute einen solchen Spaziergang!?

Einen Spaziergang mit allen Sinnen im Advent.

Spüren den Boden unter den Füßen, nehmen Ihre Stadt wahr oder die Natur. Gehen in Ihrer „inneren Landschaft“ spazieren, kommen von alten auf neue Gedanken.

Bereiten vielleicht sogar Gott einen Weg.

Was immer Sie tun: ich wünsche Ihnen einen schönen dritten Advent.

Ihr Henning Theurich aus Bonn,

von der evangelischen Kirche.

Musik 1 (s.o.)

Anmerkungen

1)Kurt Marti, Die Liebe geht zu Fuß, Ausgewählte Gedichte, Zürich (Nagel & Kimche) 2018.

2)Robert Walser, Der Spaziergang, Erstfassung 1917, in: Robert Walser, Sämtliche Werke in Einzelausgaben, hg.v. Jochen Greven, (suhrkamp tb 1105) 1985, Bd.5, S. 5 – 77; hier: S. 50.

3)Walser aaO, 52.

4)Franz Hessel, Spazieren in Berlin, Mit einem Geleitwort von Stéphane Hessel, Berlin 5. Auflage 2016 (1929), S. 23.

5) Franz Hessel aaO, S. 156.

6) Kurt Marti, Tagebuch mit Bäumen, (Luchterhand) Darmstadt und Neuwied, 2. Aufl. 1985, S. 15f. (Eintragung vom 14.6.1983).

7)Kurt Marti, Zum Beispiel Bern 1972. Ein politisches Tagebuch, (Luchterhand) Darmstadt und Neuwied 1973, S.78 (12.6.1972).

8) Kurt Marti, Leichenreden. (Neuausgabe) Mit einem Vorwort von Peter Bichsel, (Nagel & Kimche) Zürich 1996, hier S. 20.

9)Kurt Marti, Leichenreden, aaO, S. 21.

10)ebd.

11)Ebd.

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