Gemeinsames Warten

Warum müssen Wartezimmer bei Ärzten immer so voll sein. Ich blättere in einer Zeitung. Eine ältere Dame kommt herein und hängt umständlich ihren Mantel an die Garderobe. Sie fragt in meine Richtung, ob es so ginge, mit ihrem Mantel. Ja, sicher, sage ich. Und habe damit wohl eine Gesprächseinladung ausgesprochen.

Sie fängt an zu erzählen. Dass sie noch nicht gefrühstückt hat, wegen des Blutbildes, jetzt aber schon ordentlich Hunger hat und gleich in die Stadt zum Frühstücken will. Dafür habe sie jetzt als Rentnerin endlich genug Zeit. Ich lege die Zeitschrift zur Seite. Irgendwie finde ich es unhöflich, einfach weiterzulesen. Also höre ich zu.

Sie erzählt mir von ihrem Berufsleben als Ingenieurin, als Frau unter lauter Männern, von ihrem tollen Team in der Firma und dem anstrengenden Pendeln. Kenne ich auch, denke ich. Von Mann oder Kindern erzählt sie nicht. Vielleicht gibt es niemanden zu Hause, dem sie das alles erzählen kann, denke ich. Und höre weiter zu. Längst nicht mehr aus Höflichkeit, sondern weil ich ihr Leben so spannend finde!

Am Ende fühle ich mich beschenkt. Ich weiß nicht mal ihren Namen. Eine wildfremde Frau hat mir ihr halbes Leben erzählt, wir haben zusammen gelacht und die Wartezeit beim Arzt verging viel schneller als sonst.

Danke, liebe Unbekannte!

Sprecherin: Alexa Christ

Redaktion: Daniel Schneider