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Kirche in WDR 5 | 27.05.2021 | 06:55 Uhr
Gewohnheitstier
Ich bin normalerweise nicht
nah am Wasser gebaut. Aber dieses Ostern habe doch die ein oder andere Träne
verdrückt. Mein Kirchort an Sonn- und Feiertagen ist St. Aposteln am Kölner
Neumarkt. Die stolze Basilika hat jetzt schon genau 1.000 Jahre auf dem Buckel.
Aber ein Ostern wie letztes Jahr hatte sie davor auch noch nicht gesehen. Und
ich auch nicht. Letztes Jahr war das ja ein Ostern im kleinsten Kreis. Ohne
lautes „Halleluja“. Und dieses Jahr ging das auch nicht für die Gemeinde. Aber:
Ich singe dort im Basilikachor. Und beim
morgendlichen Hochamt am Ostersonntag mit
einer Mozart-Messe hatten wir in kleiner Corona-konformen Besetzung nicht nur St.
Aposteln zum Klingen gebracht. Denn die Liturgie wurde auch live im Internet
übertragen. Für uns Chormitglieder war es ein schönes Erlebnis, endlich wieder
gemeinsam Musik zu machen. Ganz besonders konnte ich aber das Glänzen in den
Augen mancher Musiker beobachten. Diese sind meist freiberuflich unterwegs und
leiden existentiell wie auch ideell an der Absage so vieler Veranstaltungen,
bei denen sie früher immer im Einsatz waren. Als wir dann zum Ende mit vollem
Einsatz „Das Grab ist leer“ gesungen und gespielt hatten, blieben zumindest
meine Augen nicht trocken und ich musste aufpassen, dass meine Stimme nicht
kippte. Man sagt ja so „der Mensch
gewöhnt sich an alles“. Stimmt. Sonst wären wir nicht mehr auf der Erde. Wir
sind, so verstanden: Gewohnheitstiere. Forscher sagen: der Mensch gewöhnt sich
an etwas Neues nach durchschnittlich 66 Tagen[1]. Aber an jenem
Ostersonntag wurde mir noch einmal klar: Gerade in meinem Gläubigsein, in
meinem Christsein will ich mich nicht an alles gewöhnen. Das österliche
„Halleluja“ möchte ich mir auch nicht am Mittwoch nach Pfingsten nehmen lassen.
Christsein geht nur in der Gemeinschaft der Gläubigen. Und beim Singen kommt
dieser Wohlklang der Gemeinschaft doch am besten zu tragen. Das vermisse ich
noch immer. Am Ende der Oster-Liturgie jedenfalls
bedankte sich dann der Priester bei allen Musizierenden und erwähnte eben auch
dies, dass darunter nicht wenige Profis sind, die damit ihren Lebensunterhalt
bestreiten. Und er wünschte uns, dass wir alle bald wieder das gemeinsam tun
könnten, wozu wir da sind. Ich merke, dass ich mich nach
14 Monaten Pandemie trotz aller Anpassungsfähigkeit an manche Dinge einfach
nicht gewöhnen oder anpassen will. Dazu gehört auch die persönliche Begegnung.
Als vor ein paar Wochen bei uns zu Hause das Internet ausfiel, war ich
gezwungen, für einen Tag aus dem Homeoffice ins Büro zu wechseln – freilich mit
Maske und gebührendem Abstand zu den Arbeitskollegen. Es gab an diesem Tag so
viel zu erzählen und so viel Nachholbedarf an zwischenmenschlicher
Kommunikation face to face, dass ich kaum zum wirklichen arbeiten gekommen bin.
Und dass eine Arbeitskollegin mir dann noch sagte, ich hätte abgenommen, war
dann noch ein Kompliment als Sahnehäubchen. Der Mensch ist ein
Gewohnheitstier, das stimmt. Er sollte aber nicht das zur Gewohnheit werden
lassen, was ihn krank macht. Verlieren wir also nicht den direkten Kontakt
zueinander, das wünscht Ihnen Ihr Jan Hendrik Stens aus Köln.
[1] https://www.alltagsforschung.de/reine-routine-in-66-tagen-zur-gewohnheit/