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Sonntagskirche | 13.01.2019 | 08:55 Uhr

Kinderaugen

Mein Bruder lebt schon seit Jahren in Innsbruck. Ab und zu besuche ich ihn dort. Beim letzten Mal war meine Enkelin Lele mit. Ich hatte so eine Lust, ihr die Berge zu zeigen! Sieben ist sie jetzt und da kann man doch gut mal mit der Oma auf Reisen gehen.

Einen ganzen, langen Tag verbrachten wir im Zug. Es war stockfinster, als wir endlich ankamen. Lele stand am Abteilfenster und drückte sich erwartungsvoll die Nase platt. „Innsbruck sieht aus wie Weihnachten.“ Stimmt. Das ich das noch nie bemerkt habe. Wenn ich die Lichter am Berg sehe und einfach mal nicht daran denke, dass sie zu Laternen, Wohnungen, Autoscheinwerfern gehören, dann sehen sie von unten nach oben locker verteilt, aus, wie Lichterketten am Weihnachtsbaum.

Am nächsten Morgen mussten wir natürlich sofort ans Fenster, im Hellen gucken. Für mich ist das auch beim x-ten Mal ein überwältigender Ausblick. „So groß sind die Berge also in echt.“ Wir haben lange dort gestanden, geguckt und geschwiegen. Und dann ging die Sonne auf. Pure Aufmerksamkeit vom Scheitel bis zur Sohle, ganz still stand das Kind neben mir und schien jede Sekunde in sich aufzusaugen. „Erst schickt die Sonne das Licht vor und dann kommt sie selbst über den Berg gekrochen.“ Ja – auch das hatte ich so noch nie gesehen.

Was haben wir nicht alles in den nächsten Tagen entdeckt! Dass auch die kleinsten Steinchen zum Berg gehören und alle zusammen den Berg zum Berg machen. Dass manchmal etwas so schön ist, dass man nur staunen kann und dabei kaum noch atmet. Wie still die Stille sein kann. Und wie verschieden die Landschaft aussieht, wenn ich ein paar Schritte bergauf oder bergab gehe. Und wie sich die Farben der Berge über den Tag verändern – ein und dieselbe Felswand erscheint mal blass-blau, mal zart-rosa und mal grau je nach Lichteinfall; manchmal sieht man scharfe Konturen und ein anderes Mal sieht alles verwischt aus, wie mit Wasserfarben gemalt.

Es tat mir unglaublich gut, mal wieder im Kindertempo zu leben und die Welt mit Kinderaugen zu betrachten. Von wegen: Ich zeige ihr die Berge! Sie hat mir die Augen geöffnet!

Käfer, die über ein Geländer krabbelten, waren genauso spannend, wie die Raubvögel, die über unseren Köpfen kreisten. Im Alpenzoo haben wir stundenlang den Ottern beim Auf- und Abtauchen zugeschaut und genauso aufmerksam einer Spinne beim Abseilen. Alles war es wert, wahrgenommen und bestaunt zu werden. Steinchen haben wir vom Weg aufgesammelt. Glitzersteine fielen schneller ins Auge, aber nicht glitzernde hatten oftmals tolle Formen oder Muster. Wir konnten nicht entscheiden, welcher der schönste war, denn jedes Steinchen hatte etwas Besonderes zu bieten. Der kleinste Stein, der spitzeste, der mit den meisten Farben, der rundeste, der glatteste … alle waren staunenswert.

Vor dem Einschlafen habe ich Lele gefragt: „Was war das schönste von allem, was wir heute erlebt haben?“ Die Aufzählung wurde lang und länger: Die Wolken am Morgen, die Busfahrt ins Tal, der Weg am See, das Eis in der Stadt, der Duft im Wald, die Fahrt mit der Bergbahn, die Ziegen auf der Weide, der Spielplatz mit der Kletterwand – so viel Kleines und Großes hatten wir erlebt und alles war wertvoll. Wie schön die Welt doch ist, wenn ich mir bloß Zeit nehme und die Augen so richtig aufmache.

„Wunderbar sind deine Werk, Herr! Das erkennt meine Seele.“ Ob der Dichter dieses Psalms, damals, vor rund 3000 Jahren, auch mit einem Kind an der Hand unterwegs war?

Ich bin Sabine Lethen aus Essen

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