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Das Geistliche Wort | 16.06.2019 | 08:40 Uhr

Sich nicht beirren lassen

Guten Morgen liebe Hörerinnen und Hörer,

ich liebe Geschichten; ich mag ihre Worte und Bilder; sie sprechen mich ganz unmittelbar an. Geschichten helfen mir, mein Leben zu verstehen und zu deuten. Und manchmal finde ich tiefe Wahrheiten gerade auch in einem Kinderbuch. Vielleicht liegt es daran, dass die Geschichten für Kinder gerade so prägnant und einfach daherkommen. Jedenfalls berührt mich ihre Bildsprache innerlich und trifft mein Herz. Dies gilt ganz besonders für ein Bilderbuch, das mich schon lange begleitet und dessen Geschichte von Michael Ende stammt. Es heißt: „Tranquilla Trampeltreu, die beharrliche Schildkröte“.

In dieser Geschichte erfährt die Schildkröte Tranquilla ganz zufällig eines Morgens, als sie noch vor sich hindöst, von der Hochzeit des großen Sultans aller Tiere. Leo, der 28. -klar, ein Löwe-hat alle Tiere eingeladen, groß und klein, jung und alt, dick und dünn, nass und trocken, also auch unsere Schildkröte Tranquilla Trampeltreu. Und weil diese Hochzeit das schönste Fest werden soll, das es je gegeben hat, macht sie sich auf den Weg. Getreu ihres Namens setzt sie sich denn auch in Bewegung: „Schritt für Schritt, langsam zwar, aber unaufhaltsam“.

Musik 1

Michael Endes Tranqullia Trampeltreu aus dem gleichnamigen Kinderbuch ist langsam und auch ein wenig tapsig. Kein Wunder, sie ist ja eine Schildkröte. Wer traut ihr schon zu, dass sie es noch pünktlich schafft zu dem großen Hochzeitsfest von Leo, dem 28.? Auf ihrem Weg zum großen Fest wollen daher allerlei Tiere die gemächliche Tranquilla von ihrem Vorhaben abhalten. Die anderen Tiere finden, das ist zwecklos, ja unvernünftig, was die Schildkröte da mit ihren Möglichkeiten vorhat. Dabei argumentieren diese Tiere ganz unterschiedlich, es werden ganz verschiedene Stimmen laut. Alle geben Kontra. Und hier zeigt die Kinderbucherzählung eine verblüffende Ähnlichkeit zu meinem Arbeitsalltag. Denn diese Stimmen kommen mir bekannt vor. Ich höre sie immer wieder einmal in meinen Beratungen als Supervisorin, ich kenne sie aber auch schon aus meiner früheren Tätigkeit als Frauenseelsorgerin. Ob sich nun Menschen auf den Weg machen oder Schildkröten: Es gibt viele Stimmen, die dagegen sprechen.

Da ist zunächst die Stimme der Vernunft.

In der Geschichte wird sie durch der Spinne Fatima Fadenkreuz verkörpert. Sie weist Tranquilla darauf hin, dass ihre Beine zu kurz sind und sie zu langsam ist, um rechtzeitig ans Ziel zu kommen. Die Stimme der Vernunft sagt: es gibt nur die so genannte „Realität“. Aus dem Blickwinkel der Vernunft ist ausgeschlossen, dass manchmal auch scheinbar Unmögliches wahr wird, dass Schildkröten und – übertragen- auch Menschen trotz ihrer Einschränkungen oft zu Großem fähig sind und an den Herausforderungen ihres Lebens ungeahnt wachsen können.

Das nächste Tier auf Tranquillas Weg ist die Schnecke Scheheresade Schleimig. Aus ihr spricht die Stimme der Resignation. Die Schnecke betont nicht nur umständlich, dass die Schildkröte in die falsche Richtung gelaufen ist, sondern möchte vor allem für sich selbst Mitleid. Wie sie selbst soll auch Tranquilla an der Sinnlosigkeit der Welt leiden. Sie soll mit ihr trauern und sich in der Opferrolle einrichten. Auch diese Haltung verhindert, dass Menschen ihre Möglichkeiten oder Talente realisieren und ihren Träumen auf der Spur bleiben.

Musik 2

Ein weiteres Tier stellt sich der Schildkröte in den Weg und damit eine mächtige Stimme, die das Fortkommen blockieren kann: Der Eidechserich Zacharias Zierfuß repräsentiert die Einengung durch gesellschaftliche Konventionen. Es ist die Stimme des „man“, die immer genau weiß, was man tut, was man sagt und was man zu denken hat. Solch eine Einstellung erlaubt keine individuelle Sicht, keine eigenen Erfahrungen. Und auch darunter leiden und ersticken nicht wenige Menschen.

In der letzten Stimme, die auf Tranquillas Weg laut wird, verdichten sich alle Blockaden und- Barrieren auf dem Lebensweg. Es ist die Stimme des weisen Raben Hatschi Halef Habakuk. Der Rabe verkündet der Schildkröte den Tod des großen Sultans Leo des 28. und damit die Absage des großen Festes. Diese absolut lebensverneinende Stimme habe ich in Beratungen oft gehört und höre sie leider nach wie vor. Sie erschüttert mich jedes Mal neu, oft bin ich fassungslos. In solchen Momenten macht mir dann die Geschichte von Michael Ende Mut. Genau für solche Momente brauchen wir Geschichten, die die Wirklichkeit noch einmal anders deuten. Genau hier trifft mich Tranquilla Trampeltreu. Nach langer Wanderung erreicht die Schildkröte nämlich eine große Blumenwiese, auf der viele Tiere in freudiger Erwartung versammelt sind. Wenngleich die Hochzeit Leo des 28. ausfällt, findet doch die seines Nachfolgers, Leo des 29., statt. Und diese Hochzeit wird tatsächlich das schönste Fest, das es je gegeben hat. Wie gut, dass Tranquilla sich auf den Weg gemacht hat – trotz all der Stimmen, die dagegen sprachen. Dass so etwas möglich ist, erlebe auch ich, Gott sei Dank, in meinem Alltag. Gegen allen Augenschein und Widerspruch erreichen Menschen das Ziel. Dann nämlich, wenn ein Mensch sich nicht mehr von alten Stimmen beirren lässt, sondern – oft zunächst vorsichtig tastend – Schritt für Schritt neue Wege ausprobiert und sich so bisher ungeahnte Lebensmöglichkeiten erschließt.

Musik 3

Wie die Schildkröte in Michael Endes Kinderbuch trotzen auch Menschen aus meinem beruflichen und privaten Umfeld den Stimmen, die sie auf ihrem Lebensweg blockieren. Sie lassen sich nicht beirren und setzen sich mit den Botschaften auseinander, die sie an der eigenen Entwicklung hindern. So z.B. eine junge Frau, die bei mir in der Beratung war. Sie erlebt sich in ihrem beruflichen Handeln oft unsicher, will selbstbewusster ihre Ideen verwirklichen. Nach und nach wird ihr in unseren Gesprächen deutlich, dass ihr eine alte Botschaft der Eltern den Weg blockiert bei der Verwirklichung ihres Zieles.

Als Arbeiterkind hatten ihr die Eltern eingetrichtert: Realschule und Lehre danach – das reicht. Abitur, und erst recht ein Studium – beides kam nicht in Frage. Die Frau hat Abitur gemacht, hat studiert. Aber insgeheim hat sie immer der Botschaft der Eltern gehorcht, die da war: Aufstieg und Erfolg im Beruf passen nicht zu uns kleinen Leuten! Wir machen brav unsere Arbeit! Das ist genug!“

All die Jahre hatte sich die Frau ihre Erfolge kleingeredet. Sie wollte sich ja nicht über die Eltern hinwegsetzen. Ihr Fortkommen hatte keinen Wert und sie hat sich nicht getraut, ihre kreativen Ideen umzusetzen. Als sie dieses Muster in der Beratung erkennt, kommt bei ihr etwas in Bewegung. Sie setzt sich mit dieser Stimme aus ihrer Herkunftsfamilie auseinander. Sie sieht auch etwas Gutes daran, nämlich, dass sie gut zurücktreten und in der zweiten Reihe stehen kann. Zugleich sieht sie aber auch ihre Blockade und probiert was Neues aus. Und so wird sie Schritt für Schritt sicherer, bringt sich mehr in ihr Team ein, glänzt sogar mit der einen oder anderen Idee, so dass sie endlich ihren beruflichen Erfolg genießen kann.

Sie merken es vielleicht, liebe Hörerinnen und Hörer: im Kinderbuch sind es die Stimmen der Tiere und im echten Leben sind es oft die Stimmen der frühen Kindheit, die uns prägen.

Dass gerade die frühkindlichen Erfahrungen bis ins Erwachsenenalter wirken, hat bei mir in der Beratung auch ein Mann um die 50 entdeckt. Seine Mutter hatte ihm vor ein paar Jahren beiläufig erzählt, dass sie ihn als 5. Kind eigentlich nicht mehr hätte haben wollen. Mit seinen 4 Geschwistern sei sie schon genug ausgelastet gewesen, eine Abtreibung sei für sie allerdings leider nicht in Frage gekommen.

Obwohl er lange nichts von dieser mütterlichen Einstellung wusste, hatte der Mann schon als kleiner Junge diese Ablehnung gespürt. Deshalb hat er früh angefangen, sein Leben zu rechtfertigen. Ein Leben im permanenten Ringen um Daseinsberechtigung – was für eine Anstrengung! Beruflich führte diese Haltung zu vielen Erfolgen; allerdings musste der Mann auch einen hohen Preis dafür zahlen. Er überforderte sich permanent, gestattete sich selbst nicht den kleinsten Fehler, wurde streng gegen sich und andere, so dass er schließlich völlig erschöpft war.


In der Beratung ist der Mann diesem tödlichen Muster auf die Spur gekommen. Er hat der inneren Stimme der Rechtfertigung getrotzt und entdeckt nach und nach neue Möglichkeiten. Er kann so auch das sehen, was er sich nicht erarbeitet hat, was ihm geschenkt wurde: die Liebe seiner Frau und seiner Kinder, die Aufmerksamkeit seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die Unterstützung durch gute Freunde usw.usf. Kurz und gut: Er muss sich nicht mehr überfordern und spürt seine eigene Lebenskraft. Der Mann weiß, dass er einen Gang runter schalten kann. Das muss ja nicht heißen, dass er so kriecht wie die Schildkröte in Michael Endes Buch, aber er findet unverstellt genau sein Lebenstempo. Das ist es ja, was das Kinderbuch sagt: Alles hat seine Zeit. Alles braucht seine Zeit. Seine ganz eigene Zeit.

Musik 4

Michael Endes Geschichte von Tranquilla Trampeltreu trägt eine Weisheit in sich, die nicht nur für Menschen in Kinderschuhen wichtig ist. Sie schafft Vertrauen, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren – was die anderen auch sagen. Sie macht Mut, weiterzugehen – trotz aller Blockaden. Das kann ich auf mein Leben deuten, oder auf das der Menschen in meinen Beratungskontexten. Das kann ich aber auch deuten hin auf die katholische Kirche, in der ich seit 35 Jahren arbeite. In dieser Zeit habe ich nämlich so manche Blockaden erlebt: die Reformen des 2.Vatikanums und der Würzburger Synode verliefen vielfach im Sande; manche theologischen Neuaufbrüche wurden von Rom zunichte gemacht, die Nichtzulassung von Frauen zu den kirchlichen Ämtern wurde quasi in Zement gehauen. Die Liste dieser Reformstaus ließe sich durch weitere Beispiele fortsetzen. Aber nicht nur das; durch den Missbrauchsskandal kam es noch schlimmer. Er zeigt: Inmitten der Kirche waren Todesmächte auf brutalste Weise am Werk. Da ist es nur allzu verständlich, dass viele der Kirche den Rücken zugekehrt haben und auch ich mich fragte: „Margret, was hält Dich noch in dieser Kirche? Bist Du nur noch dabei, weil Du einen sicheren und tollen Job hast?“ Diese Frage wird immer mal wieder in mir laut – und ich kann und will sie nicht verdrängen.

Trotzdem will ich in dieser Kirche bleiben -und zwar nicht nur, weil mir mein Beruf enorm viel Spaß macht. Ich bleibe, weil ich wider allen Anschein an die Kraft des Heiligen Geistes glaube. Wenn dieser Geist Jesu Christi gerade auch durch Amtsträger verdunkelt und sozusagen vernichtet worden ist, lässt er sich letztendlich nicht töten. Er lebt nach wie vor. Er lebt in den Männern und Frauen, die sich mit all ihrer Kraft für andere einsetzen, die auch die im Blick haben, die sonst niemand sieht. Er lebt in allen, die sich gegen populistische Tendenzen der Fremdenfeindlichkeit wehren und für eine offene und gastfreundliche Gesellschaft eintreten. Er lebt in den Frauen, die nicht nachlassen, ihre Rechte in der Kirche einzufordern. Er lebt in allen, die den Todesmächten in uns und um uns herum widerstehen und die der Liebe und dem Leben zum Durchbruch verhelfen. Das glaube ich. Das nehme ich immer wieder wahr, und deshalb bleibe ich auch. Trotz aller Zweifel bin ich überzeugt: Gott lässt seine Kirche nicht im Stich. Er gibt ihr seinen Geist. Entscheidend ist allerdings, dass Menschen sich von ihm ergreifen lassen. In Michael Endes Buch hat die Schildkröte ihr Ziel im Blick: Die Hochzeit des Löwen. Und sie erreicht ihr Ziel, wenn auch gewandelt. Denn es wird tatsächlich die beste Hochzeit! In der Bibel sagt Jesus: „Selig, die nicht sehen und doch glauben“ und an anderer Stelle: „Selig, die zum Hochzeitsmahl des Lammes geladen sind“. Interessant, dass auch Jesus seine Vision vom Reich Gottes in das Bild eines Hochzeitsmahles fügt. Ob und wie das aussieht – das Reich Gottes– das weiß ich nicht. Vielleicht wird es auch besser, als ich es mir je ausmahlen kann. Das ist eine Frage des Glaubens.

Entscheidend ist, dass Jesus mich mit seinen Bildern unmittelbar anspricht und seine Botschaft mein Herz trifft. Dann nämlich werde auch ich ermutigt, an meinem Ziel festzuhalten - wie Tranquilla Trampeltreu, unsere Schildkröte aus Endes Geschichte.

Musik 5

Gehen Sie ihren Weg, liebe Hörerinnen und Hörer – was die anderen auch sagen.

Einen schönen Sonntag wünscht Ihnen, Margret Nemann aus Münster!

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