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Sonntagskirche | 19.01.2025 | 08:55 Uhr
In die Fluten
Es ist ein herrlicher Tag im Spätherbst und ich genieße meinen Spaziergang am Strand der Nordseeinsel Norderney.
Und während ich am Rand der Brandung entlang schlendere, die Meeresluft tief einatme und mir die Herbstsonne ins Gesicht scheinen lasse, höre ich hinter mir plötzlich ein paar aufgeregte Frauenstimmen. Ich will wissen, was da los ist, drehe mich um und sehe, wie eine große Gruppe Frauen in Badekleidung die Promenade hinunter und auf den Strand läuft. Noch mal zur Erinnerung: es ist ein kühler Tag im Spätherbst auf Norderney. Bestimmt 50 Frauen erobern lachend den Strand mit großem „Hallo“, im Badeanzug – aber viele mit Mütze!
Ich bin nicht die Einzige, die vorbeigeht und hinguckt. Wir sehen, wie sich die Frauen in einem großen Kreis aufstellen. Eine von ihnen scheint so etwas wie die Gruppenleiterin zu sein, jedenfalls spricht sie ein paar Worte, die ich nicht verstehe, und dann beginnen die Damen mit den Händen ihre Körper abzuklopfen. Erst die Arme hinauf und hinunter, den Bauch, die Beine, auch das Gesicht kommt nicht zu kurz. Das ist gut für die Durchblutung habe ich mir mal sagen lassen. Großes Gelächter bei den Damen und ihren Zuschauern entsteht, als sie sich gegenseitig den Rücken zudrehen und jeweils auch noch Rücken und Po der Vorderdame abklopfen.
Zum Abschluss rufen alle zusammen etwas wie einen Mutmacher-Schlachtruf. Und den brauchen die Frauen auch, denn mit lauten Rufen rennen sie danach Richtung Meer und stürzen sich in die Fluten!
Wir, die wir da von der Promenade dick eingepackt zuschauen, wir müssen unwillkürlich grinsen. Die Frauen haben uns angesteckt mit ihrer Lebensfreude. Ihre positive Aufregung, ihre ehrliche Freude und Leichtigkeit, die Glücksgefühle, die sie in diesem Moment wahrscheinlich durchströmen – all das ist auch für uns Zuschauer hier und jetzt greifbar. Eine unbändige Lust am Leben, frei und selbstbestimmt. Nach einigen Minuten dann kommen die ersten wieder aus dem Wasser, gelöst und befreit, immer noch lachend und erzählend, und offensichtlich stolz darauf den Sprung ins eiskalte Meer gemeistert zu haben.
An dieses Erlebnis musste ich unwillkürlich denken, als ich heute morgen beim Surfen im Netz las, dass am 19. Januar 1919 Frauen in Deutschland zum ersten Mal wählen durften. Der Weg dahin war für viele Frauen, die dafür gekämpft haben, auch wie ein Sprung ins kalte Wasser. Aber mal ehrlich: wie erfrischend das doch war, dass Frauen jetzt mitbestimmen konnten! Und auch wenn seitdem mehr als 100 Jahre vergangen sind – Gleichberechtigung und Selbstbestimmung von Frauen sind nach wie vor wichtige Themen, bei denen viele Hausaufgaben noch zu erledigen sind. Etwas, das einen langen Atem und viele Kraftreserven erfordert.
An diesem sonnigen Herbsttag am Strand von Norderney zeigt eine Gruppe mutiger Frauen, welche kraftvolle Dynamik sich entwickelt, wenn man in einer Gruppe Gleichgesinnter den Herausforderungen des Lebens trotzt – und sich im wahrsten Sinne des Wortes, kopfüber ins Abenteuer stürzt.
Ich gebe zu: in diesem Moment wäre ich gerne eine von ihnen gewesen.