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Das Geistliche Wort | 19.01.2025 | 08:40 Uhr
Auf Treu und Glaube - über das Verhältnis von Religion, Politik und Gesellschaft
Musik I: John Stafford Smith The Star Spangled Banner; Nationalhymne USA (John Stafford Smith; The Millenium Orchestra)
Morgen ist es soweit: Um 12.00 Uhr endet die Amtszeit von US-Präsident Joe Biden. Und es beginnt die Amtszeit des neuen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika: Donald Trump.
Musik II: John Stafford Smith The Star Spangled Banner; Nationalhymne USA (Jimi Hendrix)
Europa nein, die ganze Welt schaut voller Spannung auf das Kapitol in Washington. Glaubt man den Reden Donald Trumps im letzten Wahlkampf, warten auf die Welt fordernde Zeiten. Ich bin mir sicher: Es wird spannend. Denn die Staatenwelt des Westens erlebt bereits seit Jahren einen ungeheuren Wandel. Auch bei uns in Deutschland ist das zu spüren. In knapp fünf Wochen wählen wir ja hierzulande eine neue Regierung, da die letzte vorzeitig aufgegeben hat. Auch da wird es spannend. Guten Morgen!
Musik III: Igor Stravinsky, Le Sacre de Printemps (Cleveland Orchestra)
Gesellschaftliche Veränderungen und Wandel schüren hüben wie drüben Unsicherheit, Sorgen, ja Zukunftsängste. Ich merke das auch sehr deutlich hier in der Essener Innenstadt, wo ich als Seelsorger tätig bin. Wenn ich zum Beispiel über die Haupteinkaufsmeile, die Kettwiger Straße, schlendere, sehe ich viele frei gewordene Verkaufslokale, Zeichen wirtschaftlichen Niedergangs. Und ich erlebe immer mehr, wie viele Bettler mit ihren Pappbechern herumsitzen und Passanten um eine kleine Gabe bitten. Es ist offensichtlich: Der Abstand zwischen Arm und Reich wächst. Und wenn ich mich aufmerksam umschaue, dann entdecke ich hier auch Menschen aus verschiedenen Kulturen und Nationen. Und damit verbunden – so denke ich mir – treffen natürlich hier auch verschiedene Religionen, Sprachen und Menschenbilder aufeinander. Die kleine Domkirche in der Essener Innenstadt, erinnert zwar noch an das sogenannte christliche Abendland, aber wirkt doch auch etwas verloren. Und ich frage mich: Wie kann es noch gelingen, Vielfalt, und damit Sorgen, Nöte und Bedürfnisse aber auch Ziele und Werte einer Gesellschaft unter einen Hut zu bringen?
Viele unserer Zeitgenossen sind unzufrieden mit ihrem Leben. Sie sind empfänglich für radikale Lösungen und einfache Rezepte, wie man es besser, vor allem anders machen kann. Egal, ob diese Lösungen und Rezepte dann auch wirklich funktionieren. Mich bedrückt diese Situation des Wandels und der Veränderungen
Musik IV: Igor Stravinsky, Le Sacre de Printemps (Cleveland Orchestra)
Was ich gerade in Deutschland und Europa an Wandel, Veränderungen und Problemen erlebe, das ist auch in Amerika so: Wachsende Armut, das Aufeinanderprallen von Kulturen und Sprachen, die Polarisierung der Gesellschaft: auch hier nehmen die Spannungen zu. Deswegen schaue ich besonders auf den morgigen Tag, wenn in den USA die Amtszeit des neuen Präsidenten beginnt. Der US-Präsident ist nicht irgendwer. Er steht für eine Weltmacht, die bisher für die westliche Welt und für deren Werte stand, denen sie sich einmal gemeinsam verpflichtet haben. Dabei ist immer noch etwas sehr bemerkenswert: Denke ich nämlich an den vergangenen amerikanischen Wahlkampf, oder auch an die Feierlichkeiten, mit denen der neue US-Präsident morgen in sein Amt eingeführt werden wird, dann entdecke ich zudem etwas ganz Besonderes:
Der Einfluss der Religion auf die amerikanische Gesellschaft ist immer noch sehr groß, auch wenn jüngste Erhebungen zeigen, dass die Gruppe der Religionslosen ständig wächst. Die Religion ist in den USA stets auf eine eigene Art präsent. Und mit „Religion“ meine ich nicht Kirchgang oder Glaubensbekenntnis. Mit „Religion“ meine ich eine bestimmte Weise, die Welt zu sehen, sie zu deuten und sie sich auch für die eigenen Zwecke zunutze zu machen. Da wäre zum Beispiel der Eid, den morgen der neue Präsident ablegen wird. Der Präsident schwört, die Verfassung seines Landes zu wahren, zu schützen und zu verteidigen. Und – so ist es üblich – der neue Präsident beschließt die Eidesformel mit dem Zusatz: „So wahr mir Gott helfe.“ Die Eidesformel zeigt etwas von dem, was die Amerikaner „Civil Religion“, „öffentliche Religion“ nennen. „Öffentliche Religion“, das ist so etwas wie eine religiöse Deutung des Staatswesens jenseits der christlichen Konfessionen. In dieser Schau ist der Präsident sozusagen der „oberste Kultdiener“ an der staatlichen Gemeinschaft. Und diese weiß sich jenseits aller Bekenntnisse im Glauben verbunden an den einen Gott, an die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrages und seiner Gesetze. Gefeiert wird dieser öffentliche Glaube über die Amtseinführung des Präsidenten hinaus an besonderen nationalen Gedenktagen und an wichtigen Orten, natürlich mit politischen Reden, bei denen die amerikanischen Präsidenten gerne in biblischen Bildern Amerika als das erwählte Volk Gottes beschreiben. Der britische Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton prägte nicht ohne Grund bereits im späten 19. Jahrhundert das treffende Wort: die USA sind eine „Nation mit der Seele einer Kirche.“ Das ist zunächst einmal ja nichts Schlechtes: Denn mit der Existenz einer „öffentlichen Religion“ ist ein solides Fundament gegeben. Und auf dem kann die amerikanische Gesellschaft ein religiöses wie auch politisch sehr vielfältiges Leben führen – bei all der Verschiedenheit ihrer Kulturen.
Musik V: Francis Poulenc, Concerto for 2 Pianos in D minor (Francois-Rene Duchable; Rotterdam Philharmonic Orchestra; James Conlon)
So weit, so gut. Doch es ist nicht zu verleugnen: In den letzten beiden Jahrzehnten haben sich die Vereinigten Staaten massiv verändert. Sie stehen nicht länger für eine bunte Vielfalt auf dem Fundament einer verlässlichen gesellschaftlichen Übereinkunft. Die USA von heute wirken vielmehr polarisiert, es stehen Gruppen und Meinungen unversöhnlich gegeneinander. Und das zeigt sich auch in Sachen Religion. Denn die zeigt hier ihre unangenehmen Schattenseiten. Ein Beispiel: Das Attentat auf Donald Trump im Juli 2024. Seine Anhänger haben ihn daraufhin zum Märtyrer, zum neuen Messias ausgerufen. Und Donald Trump selbst? Er sieht sich tatsächlich als Teil eines Heilsplanes, in dem es ihm aufgetragen ist, das amerikanische Volk zu retten. Er glaubt sich in einem Krieg, in dem die guten, traditionellen Werte Amerikas gegen die Tyrannei der „falschen alten“ Eliten in Politik und Gesellschaft durchgesetzt werden sollen. Ein weiteres Beispiel: Pete Hegseth ist in der neuen US-Regierung für ein Amt vorgesehen. Hegseth trägt ein Kreuzritter-Tattoo auf seiner Brust. Zugegebenermaßen ein durch und durch christliches Zeichen, das derzeit allerdings gerne in der rechten Politszene der USA verwendet wird. Pete Hegseth und viele andere Leute im Umfeld der neuen US-Regierung stehen diesem Denken sehr nahe. Religiöse Zeichen werden zu politischen Aussagen in einem sehr einseitigen Weltbild missbraucht.
Für mich ist klar: Statt Einheit und Frieden unter den Menschen zu ermöglichen, entsteht dadurch Misstrauen, Zwietracht, manchmal sogar Hass. Viele Beispiele ließen sich für dies Art Missbrauch der Religion nennen – auch bei uns in Europa. So warb der polnische PiS-Chef Jaros?aw Kaczy?ski im Juli 2023 in einer Rede vor einer katholischen Wallfahrtsmesse in Tschenstochau um Stimmen für seine Partei. Und bei uns im Land werben politische Kräfte sehr populistisch für ein Christentum, das im Völkischen verankert ist: Heimat, Glaube, Identität. Die Partei, die offenbar klare Vorstellungen davon hat, wer zum Volk gehört und wer nicht, erzeugt doch tatsächlich eine ungute Mischung, der ein gesellschaftliches, friedvolles Miteinander von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Sprachen nicht länger ein Anliegen ist. Stattdessen Hetze, Vorurteil und Ausgrenzung. Das politische wie mitmenschliche Klima in unserem Lande ist rauer, härter und auch verletzlicher geworden. Und das ist in der Essener Innenstadt, in der ich lebe, deutlich zu spüren. Da werden Afrikaner einfach angepöbelt und Syrer als Schmarotzer diffamiert.
Eine Gesellschaft unterschiedlicher Kulturen und Religionen, die einander nicht verstehen vielleicht auch nicht verstehen wollen, eine Gesellschaft, die keine gemeinsame Sprache findet, wo Menschen sich schließlich fremd bleiben. Die Folge: Spannungen, Polarisierung, Entzweiung. Und das wird gerade dadurch beschleunigt, wenn auch noch der liebgewonnene Wohlstand schwindet. Dann besteht die zunehmende Gefahr der politischen Radikalisierungen. Einige Zeitgenossen nutzten die Stimmung, um Unfrieden zu streuen und spielen mit dem Feuer, um das bisherige Zusammenleben auf den Kopf zu stellen. Was aber tun, damit wir nicht in einer vielleicht nicht allzu fernen Zukunft in einer völlig veränderten Gesellschaft aufwachen, für die Demokratie, Meinungsvielfalt und Pluralität wenig Relevanz hat?
Musik VI: Bela Bartok, Konzert für Orchester, Intermezzo, Interrotto (Chicago Symphony Orchestra; Pierre Boulez)
Der Soziologe Armin Nassehi hat kürzlich ein Buch veröffentlicht, das den Titel trägt: „Kritik der großen Geste“. Seine These: Die Gesellschaft ist keine Großgruppe, kein großes Kollektiv, wo alles festgelegt werden kann durch einen Plan, der bestimmte Werte und Normen zum Ziel hat. Für Nassehi geht es vielmehr um das Zusammenspiel von Einzelhandlungen, um Kooperationen und Konstellationen, in einer sich immer mehr individualisierenden Gesellschaft. Es sind die vielen kleinen Schritte von Einzelnen, die etwas bewirken, verändern und zum Guten wandeln können. Nur so kann etwas Neues entstehen. Und davon profitiert schließlich dann die ganze Gesellschaft. Anders formuliert: Jede und jeder einzelne kann etwas bewirken. Ich warte nicht, bis die da was tun, es hängt von mir ab. Und darin sehe ich auch eine Chance der Religion, ja ganz konkret auch der Kirchen und ihrer immer kleiner werdenden Gemeinden.
Das hört sich vielleicht etwas utopisch an – aber Religion, Christentum, ja Kirche lebt von Utopien und nennt es Hoffnung. Eine Hoffnung zum Beispiel, die es aufnimmt mit den Widrigkeiten einer unübersichtlichen Gegenwart. Eine Hoffnung, die den einzelnen in seiner Würde ernst nimmt und ihn nicht einem kollektiven Gedanken unterordnet. Eine Hoffnung, die komplizierte Lösungswege nicht scheut, sondern skeptisch bleibt den einfachen populistischen Sprüchen gegenüber. Genau darum ist diese Hoffnung politisch. Wir Christinnen und Christen müssten allerdings bereit sein, mitten im Alltag von dieser Hoffnung zu reden und für sie einzustehen. Zum Beispiel im eigenen Stadtteil, in der eigenen Gemeinde, im eigenen Dorf. Für mich wären das zum Beispiel das Engagement in der Nachbarschaftshilfe oder ehrenamtliches Tun. Das ist der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält. Es klingt vielleicht abgedroschen, aber jede Form des Gemeinwesens, angefangen in den Familien bis hin zu Vereinen und Verbänden schafft letztlich Identität und fördert Zusammenhalt. Wie hat das doch gleich unser Bundespräsident in seiner Weihnachtsansprache formuliert: „Gemeinsinn und Tatkraft, Ideenreichtum und Fleiß, Mut und Ehrgeiz, nicht zuletzt Vertrauen in uns selbst: All das wird uns Wege in die Zukunft immer wieder neu öffnen.“
Und ich bin mir sicher: Dazu braucht es Formen, Gesten, Rituale. Es ist doch gut, dass der Bundespräsident jedes Jahr an Weihnachten sich in einer Rede an alle Bundesbürgerinnen und Bundesbürger wendet. Es ist doch gut, wenn es verlässliche Zeichen, Zeiten und Orte der Verbundenheit gibt, wie das Feiern von Weihnachten, das Zuckerfest am Ende des Ramadan oder auch die Verbundenheit zweier Menschen, die heiraten.
Für mich ist jedes dieser Zeichen, Zeiten und Orte, ein Ausdruck der Hoffnung, dass es einen Gott gibt, der seiner Welt ohne Wenn und Aber verbunden ist und der niemanden ausgrenzt, sondern zusammenführt. Und daher ist für mich jedes gelungene Miteinander, das den einzelnen schützt und ihn ernstnimmt – unabhängig von Religionszugehörigkeit, Geschlecht und Alter – ein Zeichen genau dieser Nähe Gottes bei den Menschen.
Musik VII: Bela Bartok, Konzert für Orchester, Finale; Pesante, Presto (Chicago Symphony Orchestra; Pierre Boulez)
Morgen ist es soweit: Um 12.00 Uhr ist die Amtseinführung des neuen US-Präsidenten. Ich werde sie mir mit großer Nachdenklichkeit anschauen. Denn: Die Zukunft entscheidet sich nicht an den großen Gesten, sie verwirklicht sich dort, wo jede und jeder sich füreinander einbringt und für die Hoffnung auf ein Miteinander aller in Frieden und Gerechtigkeit einsteht. Schritt für Schritt. Mitten im Alltag.
Es grüßt Sie – Ihr Wilhelm Tolksdorf aus Essen.