Gerechtigkeit

Sie ist stark, nicht zu beeinflussen durch Macht, Geld oder Ansehen. Ihre Augen sind verbunden. Es geht ihr um das gerechte Urteil. Sehen kann man sie an fast jedem Gerichtsgebäude, sie ist eingemeisselt in den Stein, sie ist eine Göttin, ihr Name ist ihr Programm: Iustitia – Gerechtigkeit. Gerechtigkeit gibt es für sie nur, wenn alle gleich behandelt werden.

Ja, denke ich, so ist es richtig, gleiche Rechte und Pflichten für alle, bei der Arbeit, in der Schule, in der Familie, nur so kann es gehen. Ich folge der Spur der Göttin und komme doch ins Zweifeln:

Was ist mit Tom? Er braucht länger um zu verstehen, wie gut, dass er auf einer besonderen Schule ist, hier darf er langsamer sein als die anderen.

Oder Yvonne, sie hat vor einigen Wochen ihren Mann verloren. Heute darf sie weniger arbeiten als die anderen.

Und Mirjam. Ihr allergrößter Wunsch war ein Klavier. Also fiel ihr Weihnachtsgeschenk dieses Jahr viel grösser aus als die der anderen.

Nein, denke ich, wenn man alle nur blind gleichbehandelt, führt das nicht zur Gerechtigkeit. Etwas anderes hätte ich gern gleich: Jeder Mensch hat das Recht darauf, mit einem offenen und liebenden Blick angeschaut zu werden. Einem Blick, der auf das Eigene schaut, auf die ganz persönlichen Fähigkeiten, Wünsche und Bedürfnisse. Dann sind alle gleich – gleich geliebt.