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Kirche in 1Live | 29.09.2015 | floatend Uhr
Klug werden und an Blumen riechen
Marie ist ein bisschen wie Jesus. Denke ich immer so. Weil das, was sie tut und sagt, sich so richtig anfühlt. Wenn jemand in unserer WG bis tief in die Nacht am Schreibtisch sitzt, ist sie diejenige, die genau im richtigen Moment mit einer Tasse Kakao an die Tür klopft und sagt: „Komm, jetzt reicht’s.“ Wenn ihr der Bus vor der Nase wegfährt, ärgert sie sich, klar. Aber nie wirklich lang. Stattdessen freut sich über die Zeit, die ihr bleibt, um in Ruhe ein bisschen zu lesen. Oder Blumen anzugucken. Manchmal schreibt sie Zettel mit netten Sachen drauf und versteckt sie in Jackentaschen oder unter Kinosesseln. Marie erzählt oft von ihrem Freiwilligen Sozialen Jahr im Hospiz. Sie hat Sterbende gepflegt, ihnen die Hand gehalten, die Augen geschlossen. Und mit vielen auch gelacht, darauf legt sie Wert. Einige hat sie gefragt, ob sie in ihrem Leben etwas anders gemacht hätten. „Und weißt du was“, sagt sie und guckt mich mit großen Augen an: „Keiner hat gesagt, dass er am liebsten mehr gearbeitet oder mehr Geld verdient hätte! Die meisten sagen: Ich würde jetzt öfter an Blumen riechen. Einfach mal ins Blaue fahren. Meinen Freunden sagen, dass ich sie liebe.“ Auf Maries Schreibtisch steht eine Postkarte mit einem Bibelspruch drauf: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, damit wir klug werden.“ Ist sie ja schon. Denke ich immer so.
Sprecher: Daniel Schneider
