Freie Meinungsäußerung

Letzten Donnerstag hat er wieder bei mir geklingelt.

Donnerstags fährt Gott nämlich immer in die Stadt zum Einkaufen.

Und dann macht er einen Zwischenstopp.

Wir trinken eine Tasse Kaffee und reden über ihn, mich und die Welt.

„Sag mal“, frage ich ihn, als er sich an den Tisch gesetzt hat, „gibt es bei dir zu Hause – also im Himmel – auch sowas wie freie Meinungsäußerung?“

„Ja natürlich“, antwortet er. „Die freie Meinung jedes einzelnen ist uns sogar heilig. Der große Unterschied besteht allerdings darin, dass wir uns frei fühlen, unsere Meinung nicht unbedingt zu äußern.“

„Das verstehe ich nicht“, sage ich verwirrt. „Man muss sich doch positionieren. Nur wenn man nicht miteinander redet, kommt es doch zu Streit.“

„Genau so ist es“, stimmt Gott zu. „Gerade in der Karwoche wird das wieder ganz besonders deutlich. Überall dort, wo krakeelt, verleumdet und gehetzt wird, führte und führt das in die Katastrophe. Manchmal so weit, dass einem Unschuldigen furchtbares Leid angetan wird. Bis hin zum Tod. Da muss man schon genau unterscheiden: Was ist freie Meinungsäußerung, die zum Gespräch einlädt; und was ist menschenverachtendes Geschrei, mit dem man andere zu Opfern und sich selbst zum Schuldigen macht?“

„Jetzt verstehe ich besser, was du meinst“, antworte ich nachdenklich. „Wer Hass in sich trägt, ist nicht frei. Und seine Meinung kann dann auch nicht mehr frei sein.“

Dieses Mal nickt Gott nur. Sein Schweigen ist bedrückend. Aber es hilft mir auch, über mein eigenes Verhalten nachzudenken.