Im Zug

Ich mag Zugfahren. Denn man kann da Menschen beim Leben zugucken. Obwohl man im Zug super wenig Platz hat und total nah aufeinanderhängt, gibt es mega viele Leute, die so tun, als sei ihr Sitzplatz ihr Wohnzimmer. Das ist immer so ein bisschen wie Fernsehgucken. Nur dass man nicht weiß, was für ein Programm gerade läuft.

Manchmal ist es eher eine Reality Soap, wenn die Frau gegenüber ihre Beziehungsprobleme am Handy bespricht. Manchmal ist es Sportschau, weil zwei Männer über ihre Fußballvereine sprechen. Letzte Woche war es richtig krass, denn plötzlich stand ein Mann mitten im RE nach Düsseldorf auf, quetschte sich an den Menschen vorbei und sagte: "Ihr seid alle erlöst." Kein Scherz. Ich bin vor Fremdschämen ganz rot geworden. Die Frau neben mir hat angefangen zu kichern. Dann hat der Mann gesagt "Praise the Lord!".

Irgendwie fand ich das ungerecht. Wenn zwei Männer über ihre Fußballvereine laut diskutieren, ist das auch niemandem peinlich. Und selbst bei der Frau, die ihre Beziehungsprobleme am Handy geklärt hat, hat niemand angefangen zu kichern. "Wenn ihr an Gott glaubt, ruft Amen mit mir Schwestern und Brüder." Ich habe meinen ganzen Mut zusammengenommen, den Mann angeguckt und "AMEN!" gerufen. Als ich ausgestiegen bin, habe ich mich mutig gefühlt. Nur, um dann direkt zu merken, dass ich im Zug gar nicht die mutigste war.