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Kirche in 1Live | 27.09.2018 | floatend Uhr
Sehen und gesehen werden
Im Zug auf dem Weg von Bremen nach Köln: Ich bin schlecht drauf und möchte einfach nur schlafen. Doch leider setzt sich jemand zu mir mit dem Kommentar. „Schön, dass sie haptische Medien den Digitalen vorziehen“ Er zeigt auf die Bücher in meiner Tasche. Er erzählt von seinen drei Hochschulabschlüssen, den fünf Sprachen die er spricht und seiner geplanten Kunstausstellung.
Sieben Abhandlungen über deutsche Kunstgeschichte später kommen wir endlich in Hannover an. Ich muss umsteigen und freue mich über eine Stunde Ruhe am Bahnhof, als mich jemand am Pulli zupft: Hallo, können Sie mir kurz helfen? So habe ich auch noch Maik kennen gelernt. Neben Kaffee wollte er mir natürlich auch seine Lebensgeschichte erzählen und mir seinen Rollstuhl erklären.
Als ich endlich alleine im Ruheabteil des ICEs sitze, bin ich genervt. Von mir, meinem Ärger und von der Ungerechtigkeit dieser Welt. Wie kann es sein, dass Menschen so einsam sind, dass sie Fremden ihr ganzes Leben erzählen? Doch bevor sich der Ärger weiter in mir ausbreitet, kommt mir plötzlich noch ein anderer Gedanke: Du bist der Gott der mich sieht. Das hat mal eine Frau gesagt, die wirklich in der Scheiße steckte. Ihre Geschichte steht in der Bibel: Sie wurde von ihrem Chef geschwängert, dann entlassen und buchstäblich in die Wüste geschickt. Aber selbst an ihrem größten Tiefpunkt fühlte sie sich von Gott gesehen. Irgendwie ein beruhigender Gedanke. Gott verliert keinen aus dem Blick. Wahrscheinlich gilt das auch für Maik am Bahnhof, einsame Akademiker und für mich, der jetzt erstmal eine Mütze voll Schlaf braucht.
Sprecher: Daniel Schneider