Verpasste Chancen

Es ist mitten in der Nacht und ich sitze hellwach im Bett: Meine Kindergartenmappe ist weg! So eine Scheiße! Und plötzlich fange ich total unkontrolliert an zu weinen. Das hört sich jetzt an wie so ‘ne Sache, die manchmal nachts passiert: Da hat man einen komischen Traum und ist voll drin in dem miesen Gefühl, aber am nächsten Tag denkt man sich: Haha, das war doch alles halb so wild! Und das mit der Kindergartenmappe klingt im ersten Moment wahrscheinlich auch so: ein bisschen überdramatisch und ein bisschen süß. Doch leider ist das in diesem Fall anders. Denn als mir das da nachts eingefallen ist mit der Kindergartenmappe, da wird mir klar: Ich habe die Chance verpasst! Zack, zu spät! Meine Mappe vom Kindergarten, also so ein Hefter mit ein paar Bildern, die ich als Vierjährige gemalt habe, die lag nämlich jahrzehntelang unter Mamas Computertisch. Der stand in meinem alten Kinderzimmer. Und das gibt’s nicht mehr, weil Mamas Haus letztens abgerissen wurde. Alles platt, auch mein Kinderzimmer. Vorher bin ich natürlich nochmal durch’s Haus gegangen. Und ich habe Abschied genommen und ein paar Sachen als Erinnerung mitgenommen. Aber in den blöden Schreibtisch, da hab‘ ich einfach nicht mehr reingeguckt. Und das fällt mir ausgerechnet jetzt ein – mitten in der Nacht. Und ich heule und heule. Um meine Kindergartenmappe, um die verpasste Chance, um mein Elternhaus und um das, was einmal war und jetzt vorbei ist. Mit dem Abriss vom Haus bin ich eigentlich ziemlich cool umgegangen. Aber dass ich den Moment verpasst habe, meine Kindergartenmappe noch zu retten, das hat gesessen. Was Du jetzt von meiner Geschichte hast? Sei vielleicht ein bisschen feinfühliger und aufmerksamer als ich für die Chancen, für die vielen kleinen und großen Momente im Leben.

Ela Kornek, Münster