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Kirche in WDR 2 | 18.06.2025 | 05:55 Uhr
90. Geburtstag
Stell‘ dir vor, dein jüngster Enkel schreibt eine Rede zu deinem 90. Geburtstag. Was würde drinstehen?
Was für ne Frage. Weil ich keine Kinder hab, werde ich wohl nie einen Enkel haben, der mir am 90. eine Rede hält. Aber darum beschäftigt mich die Frage nicht. Sie beschäftigt mich, weil es mit der ja ans Eingemachte geht. Letztlich um: Wer will ich einmal gewesen sein? Wie möchte ich von denen, die mir wichtig sind, wahrgenommen werde? Und wie nahe komme ich diesem Wunschbild jetzt? Womöglich klaffen Selbst- und Fremdwahrnehmung ja ziemlich auseinander. Die Frage nach der Geburtstagsrede war übrigens Teil meiner Vorbereitung aufs Osterfest. In der Fastenzeit hatte ich an einem spirituellen Programm teilgenommen, das wir Katholiken Exerzitien nennen. Und da geht es darum, mal genauer hinzusehen, wie es gerade so läuft im eigenen Leben. Wie man umgeht mit sich, Gott und der Welt. Und Teil dieser Exerzitien, war diese Frage nach der Geburtstagsrede. Die ganze Karwoche über liegt der Schreibblock auf meinem Esstisch. Ich finde einfach keinen Anfang. Am Ostermontag stirbt dann Papst Franziskus, so relativ kurz vor seinem 90. Auch er hatte keine Enkel, klar. Aber es gab bekanntlich eine Menge Nachrufe: Viel Lob für seine Haltung, seinen Mut, seine Geduld, seine Nächstenliebe, seine Bescheidenheit, seinen Humor und vieles mehr. Und ich denke mir: Hätte man mich vor einem Jahr gefragt: „Was sagst Du zu Papst Franziskus“? Hätte ich als Kirchen-Insiderin vielleicht erst mal geklagt: dass sein Reformwille so viel zurückhaltender daherkommt, als ich und viele andere gehofft haben. Und dass ich sein Frauenbild besorgniserregend finde. Als Franziskus noch ganz frisch Papst war, war ich so voller Hoffnung. Und am Ende? Überwog Enttäuschung. Und das war in den Medien irgendwie nicht anders. Aber mit seinem Tod hat sich der Blick plötzlich geändert. Das Bild von ihm ist weiter geworden. Kritikpunkte wurden benannt. Und das, was er geschafft und versucht hat.
Ich habe schon viele Trauergespräche geführt und Trauerreden gehalten. Und deshalb weiß ich, das, was nach dem Tod bei Franziskus passiert ist, gilt nicht nur für Päpste: Mit dem Tod rückt das „Und“ mehr in den Vordergrund. Die schwierigen und die guten Eigenschaften werden benannt. Das Gelingen und das Scheitern. Die Art, wie dieser Mensch gelebt hat und die Umstände, warum das so war. In den letzten Wochen habe ich oft darüber nachgedacht: Wie schade, dass auch mein Denken über Franziskus zuletzt so wenig von diesem „Und“ hatte. Wäre doch schön gewesen, wenn er all diese Anerkennung der Vielen mal zu Lebzeiten erfahren hätte. Neben der Kritik. Und auch das gilt nicht nur für Päpste.
Jetzt ist der Schreibblock immer noch leer, auf dem ich die Geburtstagsrede meines jüngsten Enkels zu meinem 90. notieren will. Eigentlich bräuchte es ja aber vor allem ein Wort: „und“. Dann könnte ein Element der Rede sein: „Typisch für Oma Michaela ist, dass sie Menschen sagt, was sie ihr bedeuten. Sie sagt ihnen, was sie schätzt, welche Talente, Eigenschaften und Besonderheiten sie wahrnimmt. Und, wenn man es hören will, sagt sie auch, was sie kritisch findet.“ Nachrufe sind schön. Aber was da gesagt wird, ist doch viel schöner noch zu Lebzeiten zu Ohren zu bekommen! Weil ein ehrlicher „Und-Blick“ stärken kann - und einfach nur guttut.