Nicht meine Schuld

Autor: Heute ist ein guter Morgen. Ab heute wird einiges anders, sagte er sich.

Ich hab schon viel zu lange zugesehen. Mich gewöhnt. Schluss damit. Ab heute nicht mehr. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten durch das offene Fenster hinein – ein Morgen wie so viele. Aber trotzdem anders. Ein guter Morgen.

Vielleicht lag es am Radiowecker. Er hatte gestern Abend den Sender geändert. Und heute Morgen kam deutlich mehr Gitarre aus dem kleinen Lautsprecher.

Punk Musik. Die Ärzte aus Berlin

Musik:„Hast Du Dich heute schon geärgert, war es heute wieder schlimm?

Hast Du Dich wieder gefragt, warum kein Mensch was unternimmt?

Du musst nicht akzeptieren, was Dir überhaupt nicht passt.

Wenn Du Deinen Kopf nicht nur zum Tragen einer Mütze hast, ohoho.“

Autor: Wann war er eigentlich das letzte Mal auf einem Punkkonzert? Ewig her. Naja, man wird halt nicht jünger…

Aber früher – Junge, Junge, was ist er da abgegangen. Hat die goldenen Zitronen live gesehen und die sex pistols. Da war noch was los.

Mit seiner Clique ist er damals quer durch die Republik gereist. Hat gegen den Castor demonstriert, gegen Wackersdorf und gegen die Startbahn West. Traktate verteilt, Diskussionen in Fußgängerzonen geführt, auf Demos skandiert, Meinungsfreiheit gelebt.

Ja – ist lange her…

Und heute? Bin ich wenigstens noch Mitglied bei Greenpeace und Amnesty dachte er sich.

Musik:„Glaub keinem, der Dir sagt, dass Du nichts verändern kannst.

Die, die das behaupten, haben nur vor der Veränderung Angst.

Es sind dieselben, die erklären, es sei gut so, wie es ist.

Und wenn Du etwas ändern willst, dann bist Du automatisch Terrorist.“

Autor: Wann habe ich eigentlich aufgehört, mich zu ärgern, fragte er sich? Früher hatten ihn so viele Sachen auf die Palme gebracht. Aber heute? Heute gehen die Nachrichten hier rein und da raus…

Dabei waren doch alle die Horrorprognosen seiner Jugend eingetroffen! Waldsterben, Klimawandel, Flüchtlingskatastrophen, Super Gau und Kollaps der Finanzmärkte. Alles war vorhergesehen worden. Alles ist eingetroffen.

Und alle zuckten mit den Schultern – so wie er selber ja auch. Kann man ja eh nichts machen.

Musik: Es ist nicht Deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist.

Es wär nur Deine Schuld, wenn sie so bleibt.

Es ist nicht Deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist.

Es wär nur Deine Schuld, wenn sie so bleibt.

Autor: Stimmt genau, dachte er sich, als er sich langsam aus dem Bett wälzte. Ich kann nichts dafür, dass es ist, wie es ist. Aber ich muss mich nicht damit abfinden.

Ich will und ich werde wieder wütend werden, dachte er sich.

(Wenn jedes Jahr hunderte Menschen im Mittelmeer ertrinken, wenn Banken Geld verzocken. Wenn Konzerne Gewinne über Menschen- und Bürgerrechte stellen.

Ich will nicht mehr mit den Schultern zucken. Ich will mich drüber ärgern!)

Komisch – warum fiel im ausgerechnet jetzt sein Konfirmationsspruch wieder ein?

Hatte der Pfarrer damals für ihn ausgesucht.

„Gott hat uns nicht einen Geist der Furcht gegeben.

Sondern einen Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“

Genau. Keine Angst. Kein Schulterzucken mehr.

„Geh mal wieder auf die Straße, geh mal wieder demonstriern‘, denn wer nicht mehr versucht zu kämpfen, kann nur verliern‘“ summte er auf dem Weg ins Bad vor sich hin.

Heute ist ein guter Morgen … .