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Kirche in WDR 2 | 12.06.2015 | 05:55 Uhr
Not kennt ein Gebot
„Not kennt kein Gebot.“ Auf dieses Sprichwort berief sich der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg. Die Deutschen waren vor gut einhundert Jahren in Belgien einmarschiert. In einem Land, das durch seine Neutralität geschützt war. Ein klarer Rechtsbruch.
Aber in der Not können anscheinend alle Regeln außer Kraft gesetzt werden. Das kann auch lustig sein: „In der Not schmeckt die Wurst auch ohne Brot“, heißt es dann. Aber wenn es bitter ernst wird, sagen die Gewaltigen: „Not kennt kein Gebot.“ Und setzen sich einfach durch.
Der Schweizer Pfarrer Karl Barth hat damals über diesen Spruch gepredigt. Er fand, dass wir eigentlich ständig in Not geraten. Immer dann, wenn das, was wir wollen, in Konflikt gerät mit den Geboten, die für alle gelten. Die Skrupellosen setzen sich dann über alle Regeln hinweg. Und rechtfertigen sich mit dem schneidigen Sprichwort: Not kennt kein Gebot.
Sind Gebote nur für Schönwetterzeiten da? Und braucht man nicht gerade in der Not starke Gesetze, um die Opfer zu schützen? Im Krieg zum Beispiel. Oder auch dann, wenn ein großes Unternehmen saniert werden soll. Oder eine Nummer kleiner: Bei einer Scheidung, wo es plötzlich um das Haus und die Kinder geht? Wer schützt die, die unter die Räder kommen?
Jesus wurde einmal von seinen Gegnern gefragt, ob Ehescheidungen erlaubt sind. Mose habe doch zugelassen, sich zu scheiden. Jesus antwortete darauf: „Um eures Herzens Härte willen hat Mose euch dieses Gebot geschrieben.“
Eigentlich gilt etwas anderes: „Was Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden.“ Eigentlich zählt allein die Liebe. Nur: Manchmal ist eine Ehe zerrüttet. Dann ist die Not wirklich groß, und auch dafür braucht es Regeln. Deshalb habe Mose den Scheidebrief erlaubt. Er habe sozusagen ein Notstandsgesetz geschaffen. Im Härtefall ermöglicht es eine einigermaßen gerechte Regelung. Mit anderen Worten: Not kennt ihr eigenes Gebot.
Jesus lehnt dieses Notgesetz ab. Er sagt, dass eine Ehe bis zum Tod halten soll. Und zwar um diejenigen zu schützen, die sonst unter die Räder kommen: Zu seiner Zeit die Frauen, wenn sie geschieden wurden, oft aus nichtigem Grund. In seiner Bergpredigt hat Jesus auch noch andere Gesetze zugespitzt. Jesus zeigte, was der Kern aller Regeln ist: Wir sollen mit anderen Menschen liebevoll umgehen. Dafür gibt er zwei Beispiele. Ein Feind tut uns Böses. Wir suchen Vergeltung. Dann sollen wir nicht bloß Maß halten, sondern wir sollen die Täter lieben und gar nicht vergelten. Oder: Wir treffen diesen besonderen Menschen. Wir sollen nicht nur auf den Seitensprung verzichten, sondern schon auf begehrliche Seitenblicke.
Ich finde diese Gedanken großartig. Jesus zeigt dadurch, worum es eigentlich geht. Wir sollen nicht bloß tun, was die Gesetze von uns fordern. Sondern andere Menschen liebevoll ansehen. Und ihr Wohl im Blick haben.
Aber was soll in der Not geschehen? Wenn die Liebe am Ende ist? Im Rosenkrieg genauso wie im Bürgerkrieg oder im Wirtschaftskrieg. Dann bin ich bin froh, wenn es nüchterne Gebote gibt. Sie können einen Ausweg aus dem Unglück eröffnen. Bei Mose kennt die Not eben doch ein Gebot. Es ist nicht so radikal wie das Liebesgebot von Jesus. Aber es ist immerhin ein geregeltes Verfahren, um auch im Unglück menschlich zu bleiben.