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Kirche in WDR 2 | 10.07.2015 | 05:55 Uhr
Das Leben ist zu kurz
Gänseblümchen. Gras. Blauer Himmel und eine karierte Picknickdecke. Sein Kopf auf ihrem Bauch. Für einen Moment tauche ich ein in die Szene und bin glücklich: So schön kann das Leben sein! Bis mich das knatternde Motorrad in die Realität zurückholt. Ich stehe auf einer Fußgängerinsel in der Mitte einer vierspurigen Straße und warte, dass die Ampel auf Grün springt. Gegenüber auf der Hauswand das idyllische Foto. Über dem Plakat der Slogan: „Das Leben ist zu kurz, um Benzinpreise zu vergleichen.“ Ja, das trifft meinen Nerv: Ich habe auch die Nase voll von diesen zeitraubenden Optimierungshelfern. Den Preisvergleich-Apps, den Kalorienzählern und Fettverbrennungsrechnern. Den Lernprogrammen auf dem Smartphone. Schnell noch eine Lektion Englisch einschieben. Bloß keine Zeit verlieren, jede Minute sinnvoll nutzen.
Ich frage mich aber ernsthaft: Dient das alles wirklich der Optimierung des Selbst- und Familienmanagements? Ich merke: Ich verdaddel viel zu viel Zeit damit, Preise zu vergleichen. Beim Online-Shopping zum Beispiel. Der Urlaub steht vor der Tür, die Sommerkleider sind aus der Form. Ich gebe ein: Sommerkleid, Farbe pink. 417.000 Treffer. Eins gefällt mir auf Anhieb. Aber: Stimmt hier auch das Preis-Leistungsverhältnis? Gibt´s vielleicht nicht noch schönere Modelle? Gibt’s das schon irgendwo reduziert oder kann ich mir irgendwo die Versandkosten sparen? Ich suche online, weil ich nicht zu viel Zeit in der Stadt verbringen will. Es soll schnell gehen. Dauert aber doch ziemlich lang. Am Ende habe ich ein ungutes Gefühl. Schon wieder eine Stunde rum. Und noch immer habe ich mich nicht entschieden.
Das Leben ist zu kurz, um Preise für Sommerkleider zu vergleichen. Das Leben ist zu kurz, um nicht zu leben. Die Werbefachleute sind schlau. Sie kennen meinen Durst nach Leben. Und so kreieren sie Plakate mit Liebespaaren auf der Wiese.
Beziehung ist das Zauberwort: berühren. Kontakt aufnehmen. Sich nah sein. Leben ist bezogen sein. Bezogen auf einen anderen Menschen. Auf ein Tier. Auf die Natur. Auf mich selbst. Ich finde mich aber immer wieder mit der Nase vor dem Bildschirm – dem Notebook, dem Smartphone, dem Tablet. Und da guck ich mir Bilder an von einem Leben, das ich genau in dem Moment verpasse. Denn es spielt vor der Tür.
Oder direkt neben mir in der U-Bahn oder im Café. Ich muss den Blick nur mal vom Bildschirm weg lenken. Das Leben ist zu kurz, um das Leben zu verpassen. Das klingt jetzt so groß. Leben kann auch ein gelungener Einkauf sein. Ich habe ein Paar Schuhe, die habe ich im Urlaub gekauft. Mit einer Freundin. Wir hatten Zeit. Bummelten gemütlich durch die Fußgängerzone. Probierten an. Aßen Eis. Die Schuhe erinnern mich an Sonne, die Freundin, leckeres Eis, entspannte Stunden, Lachen und gute Gespräche. Glück. Leben. Der Interneteinkauf kann Spaß machen, aber oft macht er trotz der Beute nicht satt.
In der Bibel gibt es ein schönes Wort: Lebenssatt. Er oder sie starb alt und lebenssatt. Das heißt nicht: Sie hatte das Leben satt, sondern: Sie hatte Leben – satt! Oder: Er hatte ein erfülltes Leben. Das Leben ist zu kurz, um nicht zu leben.