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Kirche in WDR 2 | 11.03.2016 | 05:55 Uhr
Papierboote gegen das Vergessen
Boote zu basteln gehörte – offen gesagt – nicht zu den Lieblingsbeschäftigungen meiner Kindheit. Ganz im Gegensatz zu meiner Frau. Die hatte es geliebt, Boote aus einem einfachen Blatt Papier zu falten. Aber vielleicht liegt mein kindliches Desinteresse ja daran, dass ich mit meinen paar gebastelten Papierbooten jedes Mal gescheitert bin, wenn es daran ging, sie zu Wasser zu lassen: Die Dinger versanken immer kläglich. In den Papierbooten manifestierte sich für mich damals also eher die Möglichkeit des Scheiterns als ein leichtes Kinderspiel.
Vielleicht spricht mich deshalb die Ausstellung der Berliner Künstlerin Rebecca Raue an, die heute in der Kirche St. Gertrud in Köln eröffnet wird. In dem modernen Beton-Kirchbau präsentiert Rebecca Raue übergroße Boote, die mich an die Papierboote meiner Kindheit erinnern. Die weißen Boote haben etwas Spielerisches in diesem strengen Kirchenraum, der der Kunstrichtung des „Brutalismus“ zugerechnet wird. Die manngroßen Boote können im Raum bewegt und bespielt werden, man kann in sie hineinsteigen. Aber das Ganze hat einen ernsten Hintergrund. Und das erfahren die Besucher durch die Begleitinformationen – und damit ändert sich der Blick auf diese weißen Boote. Rebecca Raue hat nämlich die Boote gebaut zusammen mit Flüchtlingen aus Afrika. Sie alle kamen nach Deutschland mit einem Boot über das Mittelmeer. Sie alle waren auf Lampedusa. Alle sind dann über kurz oder lang in Berlin gestrandet, höflicher gesagt: angekommen. Und so heißt dann auch die Installation von Rebecca Raue: „Ankommen und Ablegen“.
Die Ausstellung ist hochaktuell und brisant. Seit in der Öffentlichkeit fast nur noch über Obergrenzen und Abschottung gesprochen wird, scheint das Schicksal all derer vergessen zu sein, die auch heute noch mit ihrer Fahrt über das Mittelmeer scheitern. Flüchtlinge, die von dubiosen Schleppern auf Boote gehievt werden, die mehr an meine Pappboote denken lassen, als an ein sicheres Gefährt.
Die Kirchengemeinde hat bewusst die Künstlerin eingeladen, weil sie gegen das Vergessen der Toten im Mittelmeer angehen will. Die Kirchengemeinde wird an jedem Abend bis Ausstellungsende am 10. April zu einem Totengedenken einladen. Am Karfreitag dann, wenn die Christen weltweit des Todes von Jesus Christus gedenken, wird in St. Gertrud dazu eine fast 50 Jahre alte Tradition wiederbelebt: das Politische Nachtgebet, so eine Art liturgisches „Sit in“. Damals nahmen in Köln Geistesgrößen daran teil wie Heinrich Böll oder Dorothee Sölle. Aus Anlass der Flüchtlingskrise lebt dieses politische Nachtgebet nun wieder auf. Mit dabei ist in St. Gertrud unter anderen der Gründer des Flüchtlingshilfsschiffes „Cap Anamur“, Rupert Neudeck.
Gedenken ist das eine. Das ist unheimlich wichtig. Aber ich sehe in den Booten noch etwas anderes – und da schaue ich mittlerweile anders drauf als mit meinen frustrieten Kinderaugen: Jedes Boot steht nicht nur für eine Mahnung an das Scheitern, sondern auch für die individuelle Chance, irgendwo anzukommen.
Bei dem Gegenwind, der einem derzeit aus vielen Mündern entgegen geschrien wird, setzt die Ausstellung einen wichtigen Akzent: Nicht den Mut zu verlieren, an die Chancen zu glauben, die in dem Herkommen jedes dieser Menschen stecken. Wenn überall nur noch über das Bedrohungspotenzial von Flüchtlingen gesprochen wird, dann haben wir langfristig wirklich ein großes Problem.
Es kommen sehr viele Menschen nach Deutschland, die zuhause um ihr Leben fürchten müssen und sogar das Risiko nicht gescheut haben, auf schwankenden Booten nach Europa zu kommen. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Großteil sich hier in Deutschland positiv einbringen kann – wenn wir diesen Menschen eine Chance geben und Zugänge zu unserer Gesellschaft verschaffen. Jeder, der dabei mit im Boot ist, hilft, dass die Möglichkeit zu Scheitern in dieser Krise sinkt.