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Kirche in WDR 2 | 27.10.2018 | 05:55 Uhr

Selbstständig

Es gehört zu dem Schlimmsten, was auf einer Reise passieren kann: Das Kind geht verloren. Grausame Gedanken schießen den Eltern durch den Kopf: Ist es verunglückt? Oder womöglich entführt? Und dann die Frage nach der Verantwortung. Habe ich genügend aufgepasst? Oder der Partner? Nicht selten entlädt sich die Angst in gegenseitigen Vorwürfen.

Die kleine Familie ist mit einer Reisegesellschaft unterwegs. Eine Städtereise in Israel. Natürlich haben sie sich gefragt, ob das nicht zu gefährlich ist. Aber der Junge ist schon zwölf, und das Osterfest in Jerusalem ein einmaliges Erlebnis. Sie selbst sind schon einmal dort gewesen.

Bei der Weiterfahrt zu den anderen heiligen Stätten muss es passiert sein. Die Gesellschaft ist schon auf dem halben Weg nach Nazareth, als die Eltern das Fehlen des Jungen bemerken. Haben sie ihn nicht einsteigen sehen? Ist er nicht bei den anderen Jugendlichen gewesen?

Der Vater versucht, zu scherzen: „Bestimmt guckt er sich noch eine Sehenswürdigkeit an. Vielleicht den Tempelberg.“ Die Mutter starrt ihn an. Schweigt. Schaut weg. „Ich mein ja nur. Unser Herr Sohn ist in letzter Zeit ganz schön selbständig geworden.“ Aber der Vater glaubt selbst nicht wirklich an die Idee, dass ihr Junge wieder mal nur den Aufstand probt. Nicht hier, in Palästina.

Die Eltern haben sich von der Reisegruppe trennen müssen, die ihr Programm weiter durchzieht. Sie haben die Ordnungskräfte verständigt und sind nach Jerusalem zurückgekehrt.

Auf dem Weg kommt der Mutter ein erschreckender Gedanke. Was wenn ihr Mann Recht hat? Wenn der Junge sich tatsächlich abgesetzt hat? Um sich selbst und seine Sprachkenntnisse zu erproben. Ohne einen Gedanken an sie zu verschwenden. Was für eine Kränkung! Der Mutter graut, als sie spürt, dass ihr ein Unfall fast lieber wäre.

Sie beißt sich auf die Lippen und schweigt. Hat ihr Mann ähnliche Gedanken? Reden können sie jedenfalls nicht miteinander. In der Mutter bohrt ein Schuldgefühl: Hat sie womöglich mit ihrem Gedanken das Schicksal ihres Sohnes besiegelt? Kann es zwischen ihr und ihm je wieder so sein wie früher?

Als sie ihn entdeckt, schreit sie ihn an: „Mein Sohn, warum hast du uns das angetan?.“ Der Vater schweigt. Der Junge schaut sie verständnislos an, als ob er fragen will, warum sie ihn überhaupt gesucht haben. Ob sie nicht wissen, dass er irgendwann seinen eigenen Weg gehen muss.

Dann haben die Eltern geweint. Erleichtert, aber auch erschrocken. Es wird tatsächlich nie wieder so sein wie früher. Der Junge hat begonnen, erwachsen zu werden und sich von seinen Eltern abzulösen. Auch wenn er ihnen am Abend gehorsam nach Nazareth folgt. Der Junge heißt Jesus. Seine Geschichte wird im zweiten Kapitel des Lukasevangeliums erzählt.

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