Vertraut und unwirklich

Zu Hause fühlt sie sich wie ein kleines Mädchen, sieht ihren alten Schulweg, riecht die Kindergartentasche und hört die Stimme ihrer Mutter, die zum Essen ruft.

„Vertraut und zugleich unwirklich“, denkt sie. Zum Glück haben die Geschwister keine Zeit für sie. Vorwürfe können ihr grad gestohlen bleiben.

Der Empfangsraum der Tagesklinik ist angenehm hell. In einer Sofaecke sitzen mehrere Senioren. Einige auf ihren Rollatoren.

„Papa?“- fragt sie zögerlich, aber sein Blick bewegt sich nicht.

„Das kann nicht sein, das darf nicht wahr sein. Noch vor zwei Wochen haben wir ganz normal telefoniert!“

„Ich bin‘s, Claudia!“, sagt sie und hat den Eindruck, dass er sie erkennt. Sie gehen ein paar Schritte in die Cafeteria. Früher haben sie viel gesprochen. Besonders über Bäume, Gräser, Pflanzen und Blumen. Sein Beruf ist auch ihr Beruf geworden. Und oft war er da mit seinem Rat. Aber jetzt?

Sie weiß nicht weiter. Und den Apfelkuchen, den bringt sie auch nicht runter.

Als sie aufsteht, fällt ihr Blick auf ein Kreuz an der Wand, darunter steht: „Gott, deine Güte ist besser als Leben.“ (Psalm
63,4)

„Lass uns gehen“, sagt er, „nach Hause“. Er steht neben ihr und hat seine Hand in ihre gelegt. „Ich kann nicht, Papa, ich kann nicht…!“

Er versteht das nicht und sie weiß es.

Auf dem Weg zu ihrer Mutter ins Krankenhaus denkt sie: „Ich bin eine erwachsene Frau. Ich werde mir von niemandem einreden lassen, ich hätte nichts gegeben, sondern nur genommen. Klar, meine Eltern haben mir das Leben geschenkt, dafür bin ich dankbar.
Und für all das, was sie für mich getan haben. Aber ich bin auch oft für sie da gewesen. Habe sie unterstützt. Der Satz: Gottes Güte reicht soweit der Himmel ist - gilt auch mir.

Auch wenn ich diesen Satz immer wieder vor mir her sagen muss. Irgendwann werde ich ihn glauben. Gottes Güte reicht soweit der Himmel ist.

Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius