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Kirche in WDR 2 | 28.03.2020 | 05:55 Uhr
Glücksmomente
Autor: "Glück ist eine Farbe und immer nur ein Moment", sagt Ferdinand von Schirach. Es ist der letzte Satz in seinem aktuellen Buch „Kaffee und Zigaretten“. "Glück ist eine Farbe und immer nur ein Moment".
Über von Schirachs Geschichten liegt meist etwas Melancholisches. Seine Figuren sind oft einsam. Ist er das auch? Man kann das vermuten. Wann er selbst denn mal glücklich gewesen ist, fragt ihn der Reporter. Von Schirach denkt kurz nach. „Da gab es zwei Momente in meinem Leben,“ sagt er. Das eine Mal in Hamburg, das andere Mal auf einer Autofahrt. Beschreiben will er sie nicht. Ich schlucke. Hat er das wirklich so gesagt? Zwei Momente? Ich starre auf mein Tablet. Ich schiebe den Cursor zurück, ich höre es nochmal und bin fassungslos. Doch. Zwei Momente Glück. Genau das hat er gesagt.
Kann
man so unterschiedlich leben? Oder das Glück so verschieden empfinden? Es
scheint so. Wann bin ich glücklich? Jeden Tag – und nicht nur einmal. Ich trete
morgens auf unsere kleine Terrasse, gucke auf den Kirschbaum, den Rasen, die
Gartenmöbel. Spüre den Boden unter den Füßen, atme die frische Luft und habe
dieses tiefe Gefühl von Glück. Von Zuhause sein. Ganz egal, ob die Morgensonne
glänzt oder
Nieselregen fällt. Ob es
nach Sommer riecht oder nach Herbst. Es ist jedes Mal ein Glücksmoment.
Ich
sitze auf dem Sofa, drehe die Anlage auf und höre Johnny Cash, Amy Winehouse
oder Jason Mraz. Und keiner stört. Ich höre einfach nur die Musik, so laut wie
ich will. Pures Glück.
Ich
sitze im Café mit einer alten Freundin, die ich lange nicht gesehen habe. Ich
lasse mich durch die Stadt treiben ohne Plan. Ich komme auf dem Campingplatz an
und springe sofort in den kühlen See. Ich nehme meine Tochter spontan
in den Arm. Ich höre meine Ärztin, wie sie
sagt: Alle Werte sind in Ordnung. Ich liebe meine Frau und fühle mich tief
verbunden. Unfassbares Glück, jedes Mal.
Und ich bin nicht bereit, das nur das „kleine Glück“ zu nennen. Nein, das ist jedes Mal groß. Und ich bin jedes Mal unendlich dankbar. Manchmal danke ich Gott. Es ist nur ein Gedanke, wenn ich auf der Terrasse stehe oder durch die Stadt schlendere oder das kühle Wasser auf der Haut spüre. Ich will das Glück nicht vergessen. All das Gute, das Gott mir getan hat.
Ferdinand von Schirach, Die Würde des Menschen, ZDF-Dokumentation vom 13.09.2019; https://www.zdf.de/kultur/kulturdoku/schirach-die-wuerde-des-menschen-kulturdoku-100.html
Ferdinand von Schirchach: Kaffee und Zigaretten, Luchterhand Literaturverlag 2019, S. 187
Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius