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Kirche in WDR 2 | 05.06.2021 | 06:20 Uhr
Müde
Manchmal bin ich einfach so
müde in letzter Zeit. Ganz egal, ob jetzt Biergärten wieder aufhaben oder
nicht. Dann sitze ich auf der Couch. Keine Lust auf nichts:
Nicht zum Rausgehen, obwohl das Wetter doch
so schön ist. Nicht zum Sport machen, obwohl ich es wirklich nötig hätte. Ich
lese nicht, meine Gitarre verstaubt. Ich bin müde.
Vielleicht ist das aber auch
kein Wunder. Auch wenn jetzt alles langsam besser wird, das letzte Jahr hat
seine Spuren hinterlassen: Die Unsicherheit. Das Hin und Her der Maßnahmen. Die
Sorge um die Gesundheit. Das hat mir Energie ausgesaugt.
Ich bilde mir ein, ich
bin damit nicht allein: Die Menschen werden anders hinter ihren Masken. Es wird
wenig gelächelt. Und viel geschimpft. Die Supermarktkasse, der Parkplatz, Bus
und Bahn werden zum Schauplatz fieser Auseinandersetzungen. Um Stress
abzubauen. Denke ich. Frust abzulassen. Ich bin einfach müde von all dem.
In
der Bibel lese ich die Geschichte von Elia: Elia ist ein Prophet, der sich mit
seiner Königin anlegt. Das bekommt ihm nicht gut. Er muss fliehen und rennt
kopflos in die Wüste hinein. Lange hält er nicht durch. Bald schon sitzt er auf
dem Boden. Völlig erschöpft und nicht mehr fähig, auch nur einen einzigen
Schritt weiterzugehen. Da greift Gott ein. Ein Engel kommt und gibt ihm etwas
zu essen und zu trinken. So gestärkt marschiert Elia weiter. 40 Tage und Nächte
lang.
So etwas brauche ich auch. Jemanden, der mich stärkt. Dass ich meine
bleierne Müdigkeit abschütteln und weiter machen kann.
Ich frage mich: Ist es
wohl möglich, dass ein Müder einem anderen Müden zum Engel wird?
Oder noch
besser: Ob man wohl umschalten kann, vom „sich übereinander aufregen“ zu
„einander stark machen“? Ich habe entdeckt: Wenn man hinter einer FFP 2 Maske
lächelt, sieht man es an den kleinen Fältchen um die Augen. Lächeln kann sich
also durchaus lohnen. Und es ist mit Sicherheit eine Stärkung. Nicht alles auf
die Goldwaage legen. Einen Streit auch mal sein lassen. Eine kleine
Unachtsamkeit einfach mal pauschal vergeben. Das kann doch gehen.
Je länger ich nachdenke, fallen mir 1001 Möglichkeiten ein, jemanden zu stärken, der genauso müde ist, wie ich selbst. Bestimmt können wir einander zum Engel werden und uns gegenseitig Seelenproviant geben für den weiteren Weg. Und dann gehen wir weiter. Wenn es sein muss 40 Tage und 40 Nächte lang. Weil wir einander haben. Weil wir uns gegenseitig stark machen.
Redaktion: Landespfarrer Dr. Titus Reinmuth