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Hörmal | 05.09.2021 | 07:45 Uhr
Immer wieder aufsteigen
Es macht einen kleinen Rums, dann dröhnt lautes Heulen durch die sonntagsverschlafene Straße. Ein vielleicht fünfjähriges Mädchen sitzt neben ihrem umgestürzten Fahrrad. Ihre Mutter läuft auf sie zu, nimmt sie in den Arm und versichert sich: „Alles noch dran? Ja. Gott sei Dank.“ Als ihre Tochter sich ein bisschen beruhigt hat, stellt die Mutter das Fahrrad wieder hin. Das Mädchen haut mit der flachen Hand einmal auf den Lenker und schimpft: „Blödes Fahrrad.“ „Nana“, sagt die Mutter, „ist ja alles in Ordnung. Du kannst wieder aufsteigen.“ „Ich fahre nie wieder Fahrrad“, schluchzt ihre Tochter, aber ihre Mutter sagt: „Doch, doch“, hilft ihr beim Aufsteigen und schubst sie ein bisschen an. Bald sind die Tränen getrocknet, und die Kleine fährt fröhlich quietschend und klingelnd den Bürgersteig auf und ab.
Ich beobachte die Szene und denke an die vielen Male, in denen ich in meinem Leben vom Fahrrad gefallen bin. Und bin froh, dass es bei mir auch immer Leute gegeben hat, die gesagt haben: Steig wieder auf. Denn wer nach einem Unfall nicht mehr aufs Fahrrad steigt, der riskiert, überhaupt nicht mehr zu fahren. Man sagt zwar immer, dass man Fahrradfahren nicht verlernt, aber irgendwann ist die Überwindung zu groß.
Manchmal erzählen mir Menschen, wie ihr Glauben einen Knick bekommen hat. Oft hat das mit den Menschen zu tun, die ihnen in Kirchen und Gemeinden begegnet sind. Die sie verletzt, enttäuscht, vielleicht sogar missbraucht haben. Manche sind von Gott selber enttäuscht, weil sie inständig um etwas gebetet haben, das nicht eingetreten ist, und sie fühlen sich allein gelassen und ziehen sich von Gott zurück. Wenn sie so erzählen, dann kann ich das oft verstehen. Und gleichzeitig spürt man: Da ist noch etwas offen.
Ich glaube manchmal, mit dem Beten ist es wie mit dem Fahrradfahren. Man verlernt es nicht, aber nach einer langen Pause kann es schwierig sein, wieder einzusteigen. Deswegen ist es besser, dranzubleiben. Auch und gerade dann, wenn ich von Gott enttäuscht bin. Vielleicht ist das dann das, was in ein erstes Gebet nach einer längeren Funkstille reingehört, so wie bei dem kleinen Mädchen, das erstmal auf den Lenker haut und ihr Fahrrad beschimpft: „Hey, Gott, ich bin sauer und enttäuscht. Und so einfach kommst du mir nicht davon!“ In der Bibel gibt es unzählige Beispiele für genau solche Gebete. Da sammeln Menschen ihre ganze Wut und steigen Gott damit aufs Dach. Martin Luther hat einmal gesagt: „Beten heißt, Gott den Sack vor die Füße zu schmeißen. Ich glaube, Gott kann das vertragen“. Und ich, ich kann das gebrauchen.
Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius