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Kirche in WDR 2 | 09.11.2021 | 05:55 Uhr
Alle Geschichten
„Sie war Weihnachten alleine
Er hat gestern seinen Hund begraben
Die da drüben hat ihr Geld verloren
Und er dort hinten wird nach Jahren, genau heute Abend, endlich die Wahrheit sagen.
Das Mädchen bei den Magazinen traut sich nich‘ nach Hause
Der Junge unter der Kapuze wird in der Schule fertig gemacht
Der Mann da vorne konnte wochenlang nich‘ vor die Tür
Der Mann da drüben bangt um seine große Liebe
Weil sie jeden Tag ein bisschen mehr ihrer Erinnerung verliert
Diese Zeilen stammen aus dem
Lied „Alle Geschichten“ von Tiemo Hauser und ich hab
mich ertappt gefühlt, als ich das gehört hab. Hatte
diese Menschen vor Augen, wie sie mit mir im Supermarkt stehen. Und wie ich
mich ärgere, weil sie so langsam sind und ich warten muss. Wie ich mich
wundere, weil sie sich so anders verhalten, anders als das, was ich für normal
halte. Brummig zur Kassiererin sind oder in der Gegend rumstarren und dabei im
Weg stehen.
Tiemo Hauser stellt sie uns vor – diese Menschen, denen wir begegnen, von deren Leben wir nichts wissen. Und doch erwarten, dass sie sich gefälligst „normal“ verhalten. Aber welches Leben verläuft schon normal?
„Die haben alle Geschichten
Und die kann man nich‘ sehen“ singt er deshalb weiter und: Also sei mal nich‘ so hart zu denen.
Wer weiß, was sie oder er
heute schon erlebt hat?
Ich habe mir vorgenommen, mir diese Frage öfter zu stellen. Immer dann, wenn
ich mal wieder im Kopfschüttelmodus bin.
Auch über mich selbst. Tiemo Hausers Lied endet nämlich so: „Auch du hast’n Tag hinter dir wenn du abends im Supermarkt stehst“ – Er hat schon Recht: Wir haben alle Geschichten. Und Kopfschütteln hat selten was Gutes bewirkt. Ein Lächeln schon.