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Kirche in WDR 2 | 04.12.2021 | 05:55 Uhr
Evas Stuhl
Eva ist 36 und erinnert sich:
Ich bin sechs Jahre alt und kann mir nicht vorstellen, dass mir irgendjemand etwa Böses will.
Man kann mir alles erzählen, ich glaube es. Warum auch nicht? Ich wachse behütet auf, um nicht zu sagen,
völlig abgeschottet: In den Kindergarten gehe ich nicht - meine beiden Eltern arbeiten von Zuhause.
Fernsehen gucke ich nicht und die anderen Kinder wohnen kilometerweit entfernt. Mir fehlt nichts,
jeder Tag ist ein kleines Abenteuer auf unserem Hof, meiner kleinen, heilen Welt. In meiner Erinnerung
bin ich sehr glücklich. Jeden Morgen wache ich auf und erzähle Gott von meinen Träumen und Wünschen.
Als wäre Gott wirklich da, auf dem Stuhl vor meinem Fenster. Wunderbar naiv, oder?
Und dann kommen meine Eltern eines Abends in mein Zimmer. „Eva,“ sagen sie:
„Nächstes Jahr musst du in die Schule. Nach diesem Sommer kannst du schon in die Vorschule. Du musst nicht, aber was hältst du davon?“ Begeistert sage ich sofort „ja“. „Da beginnt dann aber der Ernst des Lebens.“
Für mich klingt es wunderbar. Wochen später betrete ich strahlend an der Hand der Lehrerin den Raum und ich spüre es überall sofort: Diese Blicke. Ich setze mich neben ein anderes Mädchen und lächele es an.
Sie sagt: „Was hast du denn an?“ „Mein Lieblingskleid,“ sage ich. Sie sagt: „Das sieht komisch aus.“
Und da sehe ich es auch: Ich bin anders gekleidet als die anderen.
Mir wird ganz heiß und ich will einfach nur weg. Und das ist erst der Anfang:
„Wie sprichst du denn?“, „Warst du noch nie in der Stadt?“ „Kannst du noch gar nichts lesen?“ Ein Junge erzählt mir von seinem Einhorn und ich frage, ob ich es mal sehen kann und alle lachen laut. Ich lache mit, weil ich nicht weiß, was ich sonst machen soll. Ich komme zurück nach Hause und unser Hof ist anders, langweiliger, hässlicher. Mein Vater sieht mich besorgt an: „Du bist so still, Eva.“
Ich sage nichts und gehe in mein Zimmer. Der Stuhl am Fenster steht woanders. Vor meinem neuen Schreibtisch.
Am nächsten Morgen wache ich ich auf und höre aus der Schreibtischecke die Fragen der anderen: „Kannst du denn noch gar nichts lesen?“ Ich ziehe die Decke über den Kopf, bis meine Mutter mich weckt.
Ich stehe auf, der Stuhl ist leer. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden habe ich mein Paradies verloren.
Der Stuhl steht jetzt in meinem Esszimmer. Im Advent baut meine Freundin unsere alte Familienkrippe darauf auf.
Das gibt mir meinen Kinderglauben und meine verlorene heile Welt nicht zurück, aber das ist auch in Ordnung.
Die Welt ist, wie sie ist. Es gibt Menschen, die meinen es gut mit mir und manche nicht. Das weiß ich, seit ich sechs bin.
Aber immer öfter ertappe ich mich dabei, wie ich morgens zur Krippe schaue und daran denke, was diesen Tag so vor mir liegt.
Und dann ist Gott wieder da.
Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius