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Hörmal | 19.12.2021 | 07:45 Uhr
Heilige Familie
Ich bin immer etwas ratlos, wenn ich vor so einer klassischen Krippe stehe. In der Mitte die so genannte „Heilige Familie“. Maria mit verklärtem Gesichtsausdruck, Josef tiefenentspannt – keine Spur von den Strapazen, die so eine Geburt mit sich bringt. Und Jesus hellhäutig und blond. Meist sieht er gar nicht aus wie ein Neugeborenes, sondern weitaus älter. Mir ist die Heilige Familie zu weiß, zu glatt, zu schön.
Ich frage mich immer mehr, ob diese heile und heilige Familie der Grund ist, warum viele Weihnachten so stresst. Viele so überzogene Erwartungen haben. Die heile Familie – wie sehr sehnt man sich danach. Wenigstens einmal im Jahr! Das wäre doch was. Ich kenne aber Menschen, die schon Mitte Dezember Magenschmerzen kriegen oder Schlafstörungen, wenn sie an Heiligabend denken. An den Druck, der Familie den auf den Punkt gegarten Braten zu servieren. An anstrengende Fragen zur Familienplanung und an den alljährlichen Streit, wenn irgendein Großonkel seine Stammtischparolen auspackt. An die bohrenden Fragen: Was will euer Sohn mal werden? Weiß er es immer noch nicht? Und an die abschätzigen Blicke der Verwandten angesichts von zu kurzen Röcken oder blauen Fingernägeln. Weihnachten kann der pure Stress sein. Das kennen auch Sie sicherlich.
Ich meine/denke: Wenn unsere Krippenfiguren auch gestresst, genervt, verletzt wären, hätte das etwas Befreiendes. Wenn man ihnen etwas ansehen würde von den Strapazen der letzten Wochen vor der Geburt. Wenn man in Marias Gesicht vielleicht ein bisschen heiliges Genervtsein entdecken könnte angesichts von wildfremden Hirten und Sterndeutern, die da unangemeldet zu Besuch kommen. Wenn Josefs Gesichtszüge etwas verraten würden von seinen Trennungsgedanken wenige Monate zuvor und vom Rätselraten rund um seine Vaterschaft.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen mit Weihnachten im Kreis der Familie geht. Vielleicht freuen Sie sich darauf, dann freue ich mich gerne mit. Aber wenn nicht – vielleicht ist das zweite Corona Weihnachten dann die Gelegenheit, etwas zu ändern. Und vielleicht hilft Ihnen ein Gedanke: Wenn man von dem ganzen Rätsel rund um Jungfrauengeburt eins lernen kann, dann doch, dass in Gottes Augen die Biologie nicht allzu wichtig ist. Familie wird man nicht dadurch, dass man mehr Gene miteinander teilt als mit anderen Menschen. Sondern dadurch, dass man in harten Zeiten füreinander da ist, dass man unbequeme, aber prägende Wege miteinander geht. Jesus ist in einer Patchworkfamilie groß geworden. Das, was diese Familie heilig macht, ist nicht ihr perfektes Weihnachtsfest oder ihre bruchlosen Beziehungen. Sondern einzig und allein die Tatsache, dass Gott in ihrer Mitte ist.
Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius