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Kirche in WDR 2 | 29.01.2022 | 05:55 Uhr
Wenn einer träumt
„Wenn
einer träumt, so ist das nur ein Traum. Wenn alle zusammen träumen, so ist das
der Beginn der Wirklichkeit“.
Das klingt
nach schöner Sozialromantik. Sogar ein wenig poetisch. Poetische
Sozialromantik. Leute aus der Wirtschaft lächeln meist nur mitleidig über
solche Sätze. Es sei denn, eine Agentur schlägt den Satz als Motto für ein
virales Marketing zur Einführung eines Produktes vor. Dann könnte die
„poetische Sozialromantik“
eine erfolgreiche Kampagne einleiten.
Der
Satz stammt von Dom Helder Camara, einem ehemaligen Erzbischof im Nordosten
Brasiliens. Man nannte den kleinen Mann mit den lebendigen Augen: „Bischof der
Armen“. Er führte einen jahrzehntelangen Kampf für Gerechtigkeit. Als
exponierter Vertreter der Befreiungstheologie forderte er strukturelle
Veränderungen mit einer „Option für die Armen“. In der Zeit der Militärdiktatur
Brasiliens prangerte er Folterungen und Menschenrechtsverletzungen an. Nicht
nur die Militärjunta, nicht nur die Großgrundbesitzer Brasiliens, sondern auch
der Vatikan versuchte, ihn kaltzustellen.
Das
alles hat nichts mit Sozialromantik zu tun. Wenn irgendeiner die brutale Realität
von Armut beurteilen konnte, dann war es Helder Camara. Der romantisch wirkende
Satz: „Wenn alle zusammen träumen, so ist das der Beginn der Wirklichkeit“
stellt aus seinem Mund das bestehende System grundsätzlich in Frage. In der
„neuen Wirklichkeit“, wie sie sich Camara vorgestellt hat, ist kein Platz mehr
für Ausbeutung, Ungerechtigkeit, Diskriminierung. Sein Traum bezieht sich auf
die Bitte im „Vater unser“: „Deine Welt komme!“ Der diese Bitte 2000 Jahre
zuvor formuliert hat, war ebenfalls kein verträumter Spinner. Seine
Vorstellungen von der Wirklichkeit Gottes führten bekanntlich
zu seiner Hinrichtung.
Ich habe mich gefragt, warum mir gerade Dom Helder Camara, längst verstorben, als Thema für eine Morgenandacht in diesem Januar einfällt? Antwort: Weil wir dringend Menschen brauchen, die mitten in unserer heutigen Realität über dieselbe hinausweisen können. Menschen, die authentisch und nicht bestechlich sind. Persönlichkeiten, die durch ihr Tun überzeugen.
Wir erlauben uns das Beklatschen von Pflegekräften auf den Balkonen, ohne deren Arbeitsbedingungen zu verbessern. Wir erlauben uns in diesem reichen Land eine unfassbare Kinder- und Altersarmut. Wir lassen uns boostern, während in den meisten afrikanischen Ländern nicht einmal 10 % der Menschen geimpft sind. Zugleich kriegen wir Angst vor neuen Virusvarianten, die genau dort entstehen.
Eine
gerechtere Welt? Sozialromantik? Ein Traum ist ein Traum. Mehr nicht. Wenn aber
alle zusammen träumen, kann der Traum zu einer erfolgreichen Kampagne werden
und viral gehen. Am Ende steht dann der Beginn einer neuen Wirklichkeit.
Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius