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Kirche in WDR 2 | 07.02.2022 | 05:55 Uhr
Der Herr ist mein Hirte
Ich sitze am Bett dieser
Frau. Sie ist weit über 90. Schwer krank. Dement. Es ist ein stiller Besuch.
Sie redet nicht. Schon lange nicht mehr. Sie liegt nur da, mit starrem Blick
nach oben. Die Hände zusammengelegt auf der stramm zurechtgezurrten Bettdecke. Nach
einiger Zeit beginnt mein Blick, durch das Zimmer zu wandern. Auf dem
Nachttisch liegt eine Bibel. Darin ein Lesezeichen. Beim 23. Psalm. Ich lese ihr
vor: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ Eigenartig. Als ich
diesen Psalm lese, ist es, als ob sie erwacht. Sie spricht mit. Jedes Wort.
„Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal fürchte ich kein Unglück, denn du
bist bei mir.“ Danach ist alles wieder wie vorher: Sie liegt da. Und schweigt.
Aber in diesem Moment sind die Worte des Psalms für sie wie eine vertraute
Insel, auf der sie sicher fühlt. Ein berührender Moment, an den ich immer
wieder zurückdenke.
Gerade in dieser Zeit. Ich denke, das hat etwas mit der
Pandemie zu tun. Vieles ist so unsicher geworden: All die Planungen, auf die
ich mich sonst immer fest verlassen habe. Die Ziele, die ich mir gesetzt habe. Was
ich immer einfach so für selbstverständlich gehalten habe. Aber jetzt? Gar
nichts ist sicher. Nichts selbstverständlich. Überall begegnen mir Menschen,
deren Leben schwankt. Die im Moment ihren Lebensweg entlangstolpern. Von einem
Moment zum nächsten. Unsicher. Wie ich.
Und da fällt mir eben diese Frau ein.
Die nichts mehr kann. Nur noch da liegen und die Decke anstarren. Aber sie hat
ihre innere Insel der Sicherheit. In den Worten dieses Psalms: „Du bist bei
mir.“ Sie kriecht regelrecht in diese Worte hinein. Und ist geborgen. Trotz
allem.
Ich frage mich: Was ist eigentlich meine Insel der Sicherheit? Die Familie. Der Freundeskreis. Musik, inspirierende Bücher. Der Lieblingsplatz im Garten. Das sind meine Orte der Geborgenheit. Wunderschön. Aber alle auch zerbrechlich. So richtig fällt mir nichts ein, was so sicher und geborgen ist, wie der Rückzugsort dieser Frau. Ihr unerschütterliches, tiefes Gottvertrauen: „Du bist bei mir!“ Aber: Ich spüre, dass ich das im Moment wirklich gut gebrauchen kann. Zwischen Fallzahlen und Hospitalisierungsraten. Sorgen und zerbrochenen Plänen. Ich möchte so vertrauen können, wie sie vertraut. „Gott, du bist bei mir. Ich gehe meinen Weg nicht allein.“ Dann ist noch nicht alles gut, aber ich würde mich sicherer fühlen.
Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius