Komplementäre Gesellschaft

Seit vielen Jahren bin ich zu Beginn der Fastenzeit in Ghana, in Westafrika. Nicht weil das Fasten dort einfacher ist, sondern weil ich da regelmäßig in einem Priesterseminar unterrichte. Ich erschließe den Studenten dort Kunst, genauer Bilder mit christlichen und biblischen Motiven aus der langen europäischen Kulturgeschichte. Dazu suche ich aber immer auch Motive aus der westafrikanischen Kunst. Das müssen gar nicht gemalte oder geschnitzte Bilder sein.

Gerade vor einer Woche habe ich erst den letzten Kurs gehalten über das Auftreten und die Lehre Jesu. Dabei habe ich den Studenten ein Bild gezeigt, das ich in Ghana vor einigen Jahren fotografiert habe. Es war auf dem Weg vom Priesterseminar in die Innenstadt von Tamale, der drittgrößten Stadt in Ghana. Ich war mit dem Auto unterwegs, als ich plötzlich im Vorbeifahren am Straßenrand ein liegengebliebenes Auto sah. Zugegeben, das ist dort nichts Seltenes. Aber das Besondere war: Dem Auto fehlte ein Rad. Und um es in eine Werkstatt zu bringen, hatte man es quer auf einen Handkarren gestellt. Nur, dass dem Handkarren auch ein Rad fehlte und er aufgebockt war. Ich drehte um und bin ausgestiegen, um mir die beiden stillgestellten Fahrzeuge näher anzuschauen. Und weil ich da also Fotos machte, haben die Leute um mich herum angefangen zu lachen. Wie kann jemand nur so eine Szene festhalten wollen, die für Pleiten, Pech und Pannen steht?!

Wie dem auch sei. In meiner Vorlesung über die Bilder von der Lehre Jesu habe ich das Foto gezeigt – und auch die Studenten mussten lachen, nicht zuletzt, weil sie ihre Studienstadt wiedererkannten. Dabei steckt hinter dem Motiv doch etwas sehr Ernstes: Ich habe das Foto zusammengebracht mit einem Gleichnis aus der Lehre Jesu. Der fragt nämlich (Lk 6,39): „Kann ein Blinder einen Blinden führen?“ Natürlich nicht, denn beide würden in eine Grube stürzen!? Und übertragen auf die stillgestellten Fahrzeuge habe ich dann übersetzt: „Kann denn ein Lahmer einen Lahmen tragen?“ Natürlich auch nicht.

Genauso wenig wie Jesus mit diesem Satz einen Witz auf Kosten von Seh-Behinderten machen wollte, will ich einen über Geh-Behinderte machen. Vielmehr kann man doch beide Sätze auf einer anderen Ebene zusammenbringen: Wie wäre es, beide Sätze miteinander zu verschränken und zwar so, dass es eine Lösung für alle Beteiligten gibt, trotz jeweiliger Handicaps. Blinde und Lahme könnten sich gegenseitig ergänzen im Sinne von: Ein Blinder kann einen Lahmen tragen und der Lahme kann dann den Blinden führen. So wäre dann allen geholfen.

Das Ganze etwas größer gedacht: Wenn in einer Gesellschaft einer das ergänzt, was ein anderer nicht kann, dann hätte man ein sogenanntes „komplementäres Gesellschaftsprinzip“. Denn niemand ist ohne Einschränkungen und Grenzen. Und umgekehrt: Keiner kann nichts. Wie wäre es also, wenn wir uns gegenseitig ergänzen würden?! Und welche Auswirkungen hätte das hier für unsere Gesellschaft in Deutschland oder auch global gedacht für das Verhältnis zwischen den unterschiedlichen Nationen wie zwischen Deutschland und Ghana?! Es setzt nur voraus: Ich muss mir meine eigenen Einschränkungen und Grenzen genauso bewusst machen, wie meine eigenen Fähigkeiten. Und ich muss beides anderen mitteilen, damit allen geholfen werden kann.