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Kirche in WDR 2 | 25.07.2022 | 05:55 Uhr
Die 9 ist eine 6...
Die Propagandamaschinen laufen auf Hochtouren. Im Osten wie im Westen. Während die Menschen im Osten allerdings seit Jahrzehnten wissen, was sie von ihren gleichgeschalteten Medien zu erwarten haben, erlebe ich uns im Westen eher unvorbereitet. Es tauchen plötzlich Redewendungen und Begriffe auf, die nicht zu meinem Wortschatz gehören. Sog. „Expert:Innen“ definieren, wie wir was zu verstehen haben. Es sind immer wieder dieselben Expert:Innen, immer dieselben Erklärungen: In allen Talkshows, Kommentaren, Interviews.
Ehrlich
gesagt, bin ich stinksauer. Wenn es stimmt, dass Worten Taten folgen, macht mir
der momentane Umgang mit Sprache echt Angst. Apokalyptisch wird eine „neue
Welt“ beschworen, mindestens eine „Zeitenwende“. „Panzerhaubitzen“ und
„Tarnkappenbomber“ seien überlebenswichtig. Und die Bundeswehr brauche sofort
100 Milliarden Euro, weil unsere Soldaten keine langen Unterhosen haben. Wer
versucht, diese Erklärungen als Verdummung zu „enttarnen“, wird öffentlich
fertig gemacht.
Es war auf einer Veranstaltung mit russischen und ukrainischen Musikern. Wir haben zusammen gegessen und uns darüber ausgetauscht, was uns eigentlich als Menschen verbindet. Welchen Erklärungen können wir noch glauben? Welche Worte bewirken welche Folgen? Ein russischer Kollege meint: „Mit der Frage war doch bereits Pilatus beschäftigt: Was ist Wahrheit?“ Dann nimmt er einen Stift und einen Zettel, malt eine „6“ auf und fragt die ihm gegenüberstehende Gesprächspartnerin, was sie sieht. Sie antwortet:
„Eine ´9´“. Und er fragt: „Und wie kommen wir jetzt zusammen?“
Genau darum muss es gehen: Wie kommen wir wieder zusammen? Auf die „Wahrheit“ sehen wir von verschiedenen Seiten aus, und jede/jeder fühlt sich im Recht. Freiheit und Frieden können aber nicht gegen Leben eingetauscht werden. Schluss mit dem widerlichen Gerede über Militärstrategien, Waffen, die Notwendigkeit des Tötens! Irrsinn. Wir müssen ganz anders reden, mit ganz anderen Worten, miteinander. Um des Lebens willen.
Pilatus hat bereits gewusst, dass sich mit der Frage nach Wahrheit ganz unterschiedliche Interessen verbinden: Auf der einen Seite das Interesse der Besatzungsmacht, damals Rom. Auf der anderen Seite das Interesse des jüdischen Establishments im damals besetzten Jerusalem. Am Ende hat sich Pilatus pragmatisch für die Logik der Macht entschieden, für die Hinrichtung Jesu. Bleibt die Frage: Sind wir kulturell irgendwie weitergekommen?
Ich schlage vor, wir schicken alle sog. Expert:Innen auf den Mond und hören erst einmal den Müttern der ukrainischen Soldaten und den „Soldatenmüttern Russlands“ zu. Dann laden wir die Zeitzeugen der südafrikanischen „Wahrheitskommission“ ein und die Aktivistinnen der Versöhnungsarbeit in Ruanda. Vielleicht bekommen wir dann eine Ahnung davon, wie es mit unserer Welt weiter gehen könnte.
Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius