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Kirche in WDR 2 | 26.07.2022 | 05:55 Uhr
Die Schlange ist lang
Die Schlange ist lang. Vielleicht 150 Meter. Nein, ich rede nicht vom Anstehen der Flüchtlinge vor dem kommunalen Integrationszentrum. Ich meine das Anstehen armer Menschen vor der Wuppertaler Tafel. Vor einem Jahr sind 3100 Haushalte wöchentlich mit Lebensmitteln versorgt worden. Heute sind es bereits 6700 Haushalte. Mehr als doppelt so viel. Deswegen dürfen die Menschen heute nur noch 14-tägig kommen. „Wir mussten die Reißleine ziehen“, so der Vorsitzende der Tafel. „Die Lebensmittel reichen sonst nicht für alle“. Und dann sagt er noch: „Viele Wuppertaler ahnen noch gar nicht, dass sie vielleicht selbst bald Kunden der Tafel sein können.“
Laut Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes hat die Armutsquote in Deutschland einen neuen Höchststand erreicht.
Und noch etwas hat einen neuen Höchststand erreicht: In diesem Jahr zahlen deutsche Aktienunternehmen 70 Milliarden Euro Dividenden aus. So viel wie noch nie zuvor.
Vor dem, was wir Armut nennen, kommt die Angst. Die Angst ist schon da, wenn ich meinen Strom oder meine Heizung nicht mehr bezahlen kann. In vielen Gesprächen kriege ich mit, dass mittlerweile viele Menschen Angst haben. Gerade auch junge Leute. Sie glauben nicht mehr, dass sie eine gute Zukunft haben werden.
Erst Corona, dann der Krieg, jetzt die inflationären Preissteigerungen und drohenden Versorgungsunsicherheiten. Es hat sich herumgesprochen, dass die Verlierer dieser Entwicklung die Armen sind. Weltweit. Es hat sich interessanterweise noch nicht herumgesprochen, wer von dieser Entwicklung profitiert. Sie fällt nicht vom Himmel. Im Gegenteil. Milliardäre haben ihr Vermögen asozial in den letzten zwei Jahren um 60 % gesteigert. Eine weitgehende Spaltung unserer Gesellschaft zeichnet sich längst ab.
Apropos „Himmel“: Es gibt viele Geschichten im Alten und Neuen Testament, die eine solch krasse Spaltung von Reichtum und Armut verurteilen. Dabei schlägt z.B. Jesus, der Nazarener ein innovatives System vor, das sich nicht an der individuellen Selbstverwirklichung orientiert, sondern daran, was wir Menschen zum Leben brauchen. Nach 2000 Jahren sind wir aber noch lange nicht so weit. Im Moment wird uns vorgeschlagen, kalt zu duschen, um Energie zu sparen. Zugleich brettern SUVs mit 200 Stundenkilometern über deutsche Autobahnen, während alle Nachbarländer längst Tempolimits eingeführt haben. Übrigens meinen die wenigen Menschen in meinem Umfeld, die richtig Geld haben, dass sie eine andere Besteuerung zum Wohl unserer Gesellschaft überfällig finden. Sie fahren interessanterweise keine SUVs.
Es ist absehbar, dass die Schlangen vor den Ausgabestellen der Tafeln in nächster Zeit noch länger werden. Die Reaktionszeit „Not-wendiger“ politischer Entscheidungen muss sich dagegen ganz bald verkürzen. Am besten ab heute.
Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius