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Kirche in WDR 2 | 20.10.2022 | 05:55 Uhr
Seelsorge
Manchmal braucht es eine Fremde. Auf einem Geburtstag, bei einer Fortbildung oder im Urlaub, mit der man ganz unverbindlich ins Gespräch kommen kann. Der man unaussprechliche Dinge sagen kann. Ganz frei, ganz offen, ohne Angst, wie die andere über einen denkt, weil man sich nie wiedersieht. «Ich liebe meine Kinder, aber manchmal nehmen sie mir die Luft zum Atmen.»
Manchmal braucht man jemanden, der einen nicht kennt oder liebt, um über die Angst vor dem Sterben zu reden. «Ich fürchte mich so sehr davor, meine Selbstständigkeit zu verlieren, Am liebsten würde ich dem Ganzen schon jetzt ein Ende setzen.» Manchmal braucht man keine Therapeutin, sondern nur jemand, der es aushält, wenn man sagt: «Mein Leben fühlt sich so falsch an.» Der dann nickt und einem Zeit lässt, nach dem Anfang des nächsten Satzes zu suchen. Manchmal braucht es nur eine Nummer, die man wählen kann mit einer Stimme am anderen Ende der Leitung, die man noch nie gehört hat. Um zu sagen: «Ich halte es diese Nacht nicht alleine aus.» Manchmal braucht es jemand, der bekannte Worte noch einmal ganz neu sagt: «Sie machen das richtig gut.», damit man es glauben kann.
Manchmal braucht es sie. Einmalige, vielleicht sogar flüchtige Kontakte, die völlig bedingungslos sind. Manchmal braucht man das Gespräch, in dem nur die eigene Sicht der Dinge zählt und und alle anderen Stimmen schweigen. Manchmal braucht man sie, die Menschen, die einen ansehen wie Gott. Offen für das, von dem man nicht mal selber wusste, dass es einem auf der Seele brennt. Verständnisvoll für das, was man selber kaum versteht. Und sanft für das, wofür man sich selber nicht mag. Geduldig, bis der ganz eigene Weg sich zeigt. Manchmal braucht man einen Fremden, der von außen kommt, für eine Stippvisite das Leben streift, damit man sich und Gott ganz tief auf die Schliche kommen kann. Manchmal braucht man keine Selbstfürsorge oder Schokoloade, kein erfolgversprechendes Coaching oder Achtsamkeitstraining, sondern einfach nur jemand, der einem den Spiegel vorhält. Und zwar ohne Filter, aber dafür mit warmem Licht. Manchmal braucht man einfach eine Seelsorgerin, die so gut zuhört, dass man selber sich neu begegnet. Manchmal braucht man einen Seelsorger, der den Blick weitet und die Augen nach oben richtet. Denn von dort kommt Hilfe.
Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius