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Hörmal | 15.01.2023 | 07:45 Uhr
Forderungen der Liebe
Was soll ich tun, wenn mich mein Gewissen packt? Wenn ich meinen Wohlstand sehe und gleichzeitig die Armut von anderen Menschen? Wie kann ich helfen? Darüber hat der berühmte russische Schriftsteller Lew Tolstoi viel nachgedacht. Der Autor von Krieg und Frieden, von Anna Karenina. Ein kritischer Christ aus dem 19. Jahrhundert. Er lädt uns zu einem Gedankenexperiment ein.
„Stellen wir uns zwei Menschen vor, einen Mann und eine Frau aus der vermögenden Klasse. Sie haben eingesehen, dass ein Luxusleben mitten im Elend der Arbeiter Sünde ist.“ Sie ziehen aufs Land. Arbeiten als Handwerker. Bauen Obst und Gemüse an. Unterrichten die Kinder im Dorf. Und helfen den Erwachsenen bei Briefen und Anträgen.
Wie wird das weitergehen? Tolstoi vermutet: Am Anfang werden die Dorfbewohner vorsichtig sein. Sie werden denken: Die wollen wie alle Reichen bestimmt ihren Besitz verteidigen. Aber sie werden merken, dass diese Beiden immer helfen. Ohne etwas dafür zu verlangen. Dann werden die Ersten das ausnutzen. Sie werden nicht nur bitten, sondern auch fordern. Und solange die Beiden noch mehr haben als andere, wird sie ihr Gewissen drücken. Sie werden abgeben, was sie haben. Und bald genauso arm sein wie die Ärmsten im Dorf.
Irgendwann wird ein Kranker kommen, dem sie ihr Bett anbieten. Bei ihm werden sie sich die Läuse und den Typhus holen. Ein Trinker wird kommen, der ihren letzten Rubel fordert. Er hat ja noch weniger als sie. Wenn er ihn hat, wird er ihn versaufen.
Was tun, wenn der gute Wille am Ende zu keiner Besserung führt? Einfach wie früher weitermachen? Das ist auch keine Lösung. Tolstoi schreibt: „Dass wir Geschwister sind und einander dienen sollen, das habe doch nicht ich erfunden, auch nicht Christus, das ist einfach so!“ Deshalb denkt er weiter.
Die Beiden könnten versuchen, bei ihren früheren Bekannten mehr Geld aufzutreiben. Aber auch das würde über kurz oder lang verpuffen. Sie könnten versuchen, die Gesellschaft über die Ungerechtigkeit aufzuklären. Aber sind nicht die Armen viel zu verzweifelt, um auf Aufklärung zu setzen? Und kleben die Reichen nicht viel zu sehr an ihren Vorrechten?
Es hilft nichts: Man muss an die Wurzel. Die Gewalt muss beseitigt werden, die die ungerechten Verhältnisse stützt. Die Gewalt der Polizisten und der Herrschenden. Der Oligarchen und des Geheimdienstes, würde er heute sagen. Aber Tolstoi ist überzeugt, dass die Gewalt nicht mit Gewalt bekämpft werden darf. Weil dadurch nur neue Gewaltverhältnisse entstehen. Er sieht nur eine Möglichkeit: Den Mund aufmachen. Die Gewalt bloß stellen. In Russland. Im Iran. Überall, wo es nötig ist. Selbst ein Beispiel geben für ein gewaltloses Leben. Und bereit sein, dafür Opfer zu bringen.
Quelle: Lew Tolstoi, Forderungen der Liebe, in: ders., Für alle Tage. Ein Lebensbuch, München 2021, 616-618
Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius