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Kirche in WDR 2 | 02.10.2023 | 05:55 Uhr
Wendezeiten
„Jetzt bitten wir Sie, nach dem Verlassen der Kirche unverzüglich nach Hause zu gehen!“ Leipzig im Herbst 1989. Von Woche zu Woche werden es immer mehr Menschen, die montags in die Nikolaikirche zum Friedensgebet kommen. Sie zünden Kerzen an und beten. Kirchenleute und Atheisten. Menschen, die einen Ort für ihre Sorge, ihre Wut und ihre tiefe Unsicherheit suchen, kommen hier zusammen. In der Kirche finden sie einen sicheren Ort. In den Gebeten werden die Namen von den Frauen und Männern vorgelesen, die aus politischen Gründen verhaftet worden sind. In einer Gesellschaft, in der so Vieles vorgeschrieben ist, ist die Kirche ein Freiraum. „Nikolaikirche offen für alle“, so lautet das Schild, das draußen vor der Kirchenpforte aufgestellt wird. Und die Menschen kommen.
Die Kerzen und die Gebete werden der Staatsführung zunehmend unheimlich. Und so verlangt sie, dass der Prediger die Leute nach dem Gebet nach Hause schickt.
Die Aufforderung verhallt in der vollen Kirche. Keiner kann diesen Satz ernst nehmen. Die Leute bleiben zusammen. Sie sammeln sich auf dem Platz vor der Kirche und ziehen dann weiter um den Leipziger Ring. Es dauert nicht lange, bis weitere Kirchen an jedem Montag ihre Pforten für die Friedensgebete öffnen. Die ersten Bilder von den Leipziger Demonstrationen gehen um die Welt. Und immer mehr Menschen in der DDR demonstrieren friedlich bis die Mauer fällt und das Gesicht Deutschlands und Europas für immer verändert.
Wenn ich heute auf die Ereignisse im Herbst 1989 schaue, dann werde ich ein wenig nostalgisch. Damals ist für einen Moment keiner auf die Idee gekommen, dass die Kirche eine Art religiöses Museum oder ein Tempel für Kunst-Ästheten sei. Damals haben viele, sehr viele Menschen wortgewaltigen Predigten gelauscht und dann die Welt verändert.
Ich habe einmal Hans-Jürgen Sievers, einen der damaligen Leipziger Pastoren, gefragt, wie sie es geschafft haben, mit Kerzen und Gebeten die Welt so zu verändern. Er hat mich angelächelt und gesagt: Wir haben nur das gemacht, was wir davor und danach auch in der Kirche gemacht haben: Für die Menschen und die Welt gebetet. Wir haben zentrale biblische Texte gelesen und gefragt, was sie heute bedeuten. Wir haben uns von Vorbildern wie Martin Luther King inspirieren lassen und die Menschen haben den Geist des Friedensgebets mit auf die Straße genommen. Gegen die der Gewalt des Denkens und des Knüppels. „Selig sind, die Frieden stiften; denn sie werden Gottes Kinder heißen“ Allein damit kann man die Welt schon verändern.
Redaktion: Pastorin Sabine Steinwender-Schnitzius