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Hörmal | 18.08.2024 | 07:45 Uhr

Wenn sich alles auflöst

Sie begrüßt ihn freundlich, so wie man einen Gast willkommen heißt. "Wie geht es dir, Mama?" fragt er. "Gut" sagt sie. "Es geht mir gut. Ich weiß nur nicht, wo ich bin." Er nimmt ihre Hand und schaut sie eine Weile an. Eine Mischung aus Trauer und Schuldgefühlen mischten sich in sein Bemühen, der Mutter in diesem Augenblick zu begegnen. Die kleine Frau sitzt vor ihm, freundlich und sauber gekleidet. Die Pflegerinnen wissen, dass er immer freitags kommt. "Wissen Sie vielleicht, wie spät es ist?" fragt die Frau ihn.


Was trägt, wenn sich alles langsam auflöst? Alles, was einem vertraut war? Ich habe nur mit Mühe Anknüpfungspunkte mit meiner an Demenz erkrankten Mutter gefunden. Als sie nicht mehr reden konnte und nur noch durch das Alphabet stolperte, haben wir gesungen. Singen ging prima. Musik, Lieder sind im Gehirn anders verknüpft. Sie sang auswendig. Ich brauchte ein Gesangbuch.


Unsere Gesellschaft befindet sich auch in einem Auflösungsprozess: Veränderungen geschehen in einer historisch unvergleichbaren Beschleunigung. Was sicher zu sein schien, verliert an Bedeutung. Haltungen und Überzeugungen erleben wir zunehmend als zeitlich befristet und der Anfrage nach Effizienz untergeordnet. Was bringt´s? Traditionell gewachsene bzw. erkämpfte Werte wie Menschenrechte, Frieden, Generationenverträge geraten unter Rechtfertigungsdruck. Dagegen gibt es kaum noch identitätsstiftende Erfahrungen oder tragende Rituale. Außer vielleicht die Begeisterung für den Fußball und der Gesang im Stadion. Gerade erlebt.


Natürlich ist die Übertragung von individuellen Erfahrungen auf einen systemischen Kontext schwierig. Es gibt jeweils eigene Mechanismen. Auf der anderen Seite besteht jedes System aus der Addition ihrer Mitglieder. Was wird, wenn sich die Mitglieder selbst nicht mehr zurechtfinden? Woran knüpfen wir an? Die Erfahrung mit der Erkrankung meiner Mutter ist für mich zu einer Metapher geworden. Wir haben fast ein wenig verzweifelt nach Möglichkeiten gesucht, uns zu verständigen. Unsicher, vorsichtig tastend - auch wegen der Verletzungen in der Vergangenheit. Miteinander noch singen zu können, war eine Entdeckung. Wir haben an Vertrautem anknüpfen können und blieben so im Kontakt. Am Ende hat mir diese Erfahrung es leichter gemacht, mich mit ihr zu versöhnen.


Man müsse nach vorne schauen, betonen heute interessanterweise rechte Extremisten und Neoliberale gleichermaßen. Wo aber bitte ist vorne, wenn es keine Orientierung an Werten, Erfahrungen und Erinnerungen gibt? Ein Ruderer gleitet nach vorne, während er sich an der zurück gelegten Strecke orientiert.

Gemeinsame Zukunft braucht eine Verständigung darüber, woher wir kommen, wo wir sind. Bevor andere entscheiden, wohin es geht.



Redaktion: Rundfunkpastorin Sabine Steinwender-Schnitzius


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