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Kirche in WDR 2 | 07.09.2024 | 05:55 Uhr
Erinnerungskultur
Es ist ein netter Abend in einem Biergarten. Ein Freund hat eingeladen. Wir feiern seinen Geburtstag nach. Manche Menschen kenne ich vom Sehen. Viele nicht. Die Stimmung ist ausgelassen, die Gespräche lustig. Bis wir, ich weiß nicht wie, auf deutsche Geschichte zu sprechen kommen. Die Frau neben mir, die eben noch herzhaft gelacht hat, wird ernst.
„Mir geht diese Erinnerungskultur auf die Nerven“, sagt sie. „Immer zu an das Unrecht der Nazizeit erinnert zu werden. Was habe ich denn damit zu tun? Irgendwann ist auch mal gut“.
Plötzlich schweigen alle am Tisch. Es ist jetzt still. Betreten still. Ein Mann versucht, die Stimmung noch zu retten: „Lasst uns heute Abend nicht über Politik reden. Sonst gibt es nur noch Streit.“ Dann kommt die Kellnerin und wir werden abgelenkt. In der Nacht wache ich auf und muss an das abgebrochene Gespräch denken. Ich kann nicht schlafen, stehe auf und schreibe diesen Text:
Keine Lust mehr, dich zu erinnern an die Gräuel der deutschen Vergangenheit, verübt durch unsere Opas, Onkel, ihre Freund*innen von damals, sagst du beim Bier.
Und mir wird eng bei dem Gedanken nicht mehr lernen zu wollen aus unserem Versagen als Menschen. Ich wünsche, dass du dich wieder erinnern magst. Auch aus Verantwortung. Und für uns alle. Dass du an die Freiheit glaubst, die dahinter hinter liegt. Auch für alle. Vielleicht eine Utopie, aber sie trägt mehr als das Vergessen.
Ich bin froh über die besondere Erinnerungskultur in Deutschland. Ich habe viel gelernt durch den Besuch von Gedenkstätten, in Gesprächen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen im Schulunterricht und in der evangelischen Jugend. Und doch scheint es mir so, dass wir trotz aller Erinnerungskultur über die Shoa, allen Audios, Videos, Apps und Museen nicht genug aus dem geschichtlichen Rückblick gelernt haben. Viel über die Zeit des Nationalsozialismus in den Schulen zu reden, ändert scheinbar nicht genug an rassistischen und rechtsextremistischen Haltungen in Deutschland.
Ich glaube, es reicht nicht, die eigene Geschichte nur zu kennen. Wir müssen auch aus ihr lernen. Geschichte beurteilen und über sie debattieren können. Doch wo Schule unserer Tochter gibt es einen Debattierraum. Dort können sich die Jugendlichen ausprobieren und diskutieren lernen. Und wir Älteren? Wir vermeiden eher kontroverse Gespräche, ist meine Erfahrung. Dabei ist es so wichtig, dass wir sprachfähig sind – auch am Abend im Biergarten. Damit am Ende nicht betretenes Schweigen steht, sondern ein Eintreten für eine starke, menschenfreundliche Zukunft, die niemanden ausschließt. Ich glaube, nur wer sich erinnert, kann aus Vergangenem lernen und so bewusst und kritisch Verantwortung übernehmen für das Leben heute. In der Hoffnung auf Gottes* Gnade.
Quellen:
Erinnerungskultur | Geschichte und Erinnerung | bpb.de
Themendossier Erinnerungskultur(en) (stiftung-evz.de)
Lebendige Erinnerungskultur | Tatsachen über Deutschland (tatsachen-ueber-deutschland.de)
Holocaust / Schoa | bpb.de
Alle zuletzt abgerufen: 26.08.24
Redaktion: Rundfunkpastorin Sabine Steinwender-Schnitzius