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Kirche in WDR 2 | 26.08.2024 | 05:55 Uhr
Bücherliebe
Bücher sind Lebensmittel
Heute ist wieder Montag, und weil heute Montag ist, ist das Wochenende leider auch schon wieder vorbei. Tja. Und vielleicht haben Sie ja am Wochenende wie so viele Menschen zu einem guten Buch gegriffen. Einen Kaffee gemacht, sind rauf auf die Couch oder in den Sessel gesunken. Und haben das Gefühl genossen, in einer Geschichte oder einem Roman so richtig festzuhängen. Und alles um sich herum zu vergessen. Handy, Uhrzeit, sogar den Hunger. Großartig, oder?
Ein Beispiel. Ich habe gerade das Buch „Herkunft“ von Sasa Stanisic verschlungen. Der fantastische Autor kam 1992 als Geflüchteter nach Deutschland. Ich schlage es auf. Und lese: „Die soziale Einrichtung, die sich für unsere Integration am stärksten einsetzte, war eine abgerockte ARAL-Tankstelle. Sie war Jugendzentrum, Getränkelieferant, Tanzfläche, Toilette. Kulturen vereint in Neonlicht und Benzingeruch. Auf dem Parkplatz lernten wir voneinander falsches Deutsch und wie man Autoradios wieder einbaut. Die einzige Regel: In der Nähe von Zapfsäulen – Rauchen verboten.“ Großartig, oder? In nur vier Sätzen übergießt Stanisic eine verranzte ARAL-Tankstelle in Heidelberg mit lauter rauer Liebe für eine Horde fremder Halbwüchsiger und macht sie zu einem Ort der Freiheit und des wüsten Zusammenhalts. Und weil er es aufgeschrieben hat und ich es jetzt lese, nimmt er mich dahin mit. Das kann nur die Literatur. Ich finde das fantastisch.
Und das hat auch der Papst verstanden. Auch er versinkt regelmäßig zwischen Buchdeckeln. Und damit meint er nicht das Gebetbuch. Im Gegenteil! Manchmal ist Lesen wichtiger als Beten. Das hat Franziskus vor kurzem in einem Brief geschrieben. Da sagt er: Liebe Leute, es wird zu wenig gelesen, und das ist nicht gut. Als Junger Lehrer hat er seinen Schülern gesagt: Bringt eure Bücher mit in die Schule! Erzählt davon, was ihr lest und was euch begeistert! Denn was passiert, wenn Menschen in Geschichten versinken? Sie heben den Kopf, werden neugierig und interessieren sich füreinander, analysiert der Papst hellsichtig. Jemand, der liest, wird in Welten verwickelt, denen er sonst aus dem Weg geht oder mit denen er nie in Kontakt treten würde. Wer liest, betritt Brücken zwischen Menschen, Milieus und fremden Welten. Wer liest, lässt sich anrühren. Und das ist so wichtig! Denn wer sich nicht mehr von der Welt, von anderen Menschen und ihren Geschichten anrühren lässt, der isoliert sich selbst, schreibt der Papst. „Wir geraten in eine Art 'geistige' Taubheit,“ schreibt er. Das ist schlecht für uns alle, und kein noch so kluges Studium kann daran was ändern. Klare Ansage.
Am Anfang war das Wort. Das sagt die Bibel. Einer schreibt es. Ein anderer liest es. Eine Brücke entsteht. Deswegen bin ich so froh, dass wir in St. Agnes eine Bücherei haben. Sie ist vielleicht der wichtigste Ort einer Gemeinde, denke ich oft, wenn ich wieder Scharen von Eltern und Kindern mit einem Stapel Bücher durch die Tür gehen sehe. 16000 Ausleihen gab es dort zuletzt pro Jahr. Wahnsinn, oder? Und engagierte Menschen, die dort jede Woche ehrenamtlich viele Stunden ihrer Zeit herschenken, weil sie schon längst kapiert haben, was der Papst jetzt geschrieben hat: Ohne Bücher verkümmert die Welt. Bücher sind Lebensmittel. Also greifen wir danach. Am besten jeden Tag. Und nicht nur an einem Montagmorgen.