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Kirche in WDR 2 | 16.11.2024 | 05:55 Uhr
Gnädiger
Sein Sohn hat eine Freundin. Glücklich macht ihn diese Nachricht nicht. Ganz im Gegensatz zu seiner Ex-Frau. Die ist begeistert. Hat er sich sagen lassen, persönlich reden die beiden ja kein Wort mehr.
Er hat deshalb kein gutes Gefühl, als sein Sohn ihn fragt, ob er die Freundin auch mal kennenlernen will. Trotzdem antwortet er: „Klar, warum nicht?“ Und dann laden die beiden ihn ein. Zu ihr, zum Kaffeetrinken.
Also fährt er hin. Keine tolle Gegend, alles nur Mietwohnungen. Aber gut, als Student hat er auch noch nicht in seinem großen Haus gewohnt.
Als die Freundin die Tür aufmacht, sieht sie eigentlich ganz nett aus. „Geschmack hat der Junge“, denkt er. Sie begrüßen sich und anschließend geht’s ins Wohnzimmer. Wie er dort auf dem Sofa sitzt, findet er alles ein bisschen eng. Dann gibt’s Kaffee. Nicht gerade die feine Bohne. Und der Kuchen - ebenfalls nicht toll. Das gibt er ihr auch zu verstehen. Man muss ja nicht über alles hinwegsehen, oder?
Jedenfalls, das Gespräch dümpelt so vor sich hin. Die Frau ist erkennbar nervös und sein Sohn sagt sowieso nicht viel. Zumindest nicht, wenn er dabei ist. Aber je länger er sich umguckt, desto unzufriedener wird er. Einmal geht er mit dem Finger unauffällig unter das Sofa. Da ist es sogar staubig! Also fragt er die beiden, ob sie einen neuen Staubsauger brauchen. Dann hätte er schon ein Weihnachtsgeschenk!
Er findet das witzig. Aber die Frau fängt an, zu weinen. Damit hat er nicht gerechnet. „Gibt doch gar keinen Grund dafür!“ Denkt er. Tatsächlich geht sie sogar kurz ‘raus, sein Sohn gleich hinterher.
Bald danach macht er sich auf den Heimweg. „Hat ja alles keinen Sinn hier“, denkt er.
Aber dann, beim Verabschieden, in dem kleinen Flur vor der Wohnungstür, da guckt die Frau ihn an, als würde sie ihren ganzen Mut zusammennehmen. Und dann sagt sie: „Zum Glück ist Gott mit Ihnen gnädiger als Sie mit mir!“ „Oh nein“, denkt er. „Fromm ist sie auch noch“ Sein Sohn hatte ihn schon vorgewarnt.
Allerdings geht dieser Satz ihm dann doch nach. Er hat mit Glauben zwar nichts am Hut. Aber er hat immer gedacht, Gott wäre total streng. Guckt ständig, was die Menschen machen, und führt über jeden eine Akte oder so was. Und jetzt dieser Satz.
Das klingt ja, als wäre Gott gar nicht so streng. Sondern eher großzügig und liebevoll. Auch in seinem Urteil.
Er muss zugeben: Das ist ein schöner Gedanke. Dass mein Leben nicht auf die Goldwaage gelegt, sondern gnädig angesehen wird. Unabhängig von dem, was andere Menschen über mich sagen. Doch, das hat was. Wenn man das glauben kann, dann kann man auch anders leben. Und selbst mit seinen Mitmenschen gnädiger sein.
Redaktion: Rundfunkpastorin Sabine Steinwender-Schnitzius