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Kirche in WDR 2 | 29.11.2024 | 05:55 Uhr
Typisch deutsch?
Was ist für Sie typisch deutsch? Kartoffeln? Sauerkraut? Pünktlichkeit? Mülltrennung? Socken in Sandalen oder Abendessen mit Vollkornbrot?
Die Lyrikerin May Ayim hat 1986 ein Gedicht geschrieben, in dem sie sich fragt, was sie eigentlich ist. Sie wird in Hamburg geboren, der Vater stammt aus Ghana. Ihre Mutter ist eine weiße Deutsche. May Ayim wächst zunächst in einem Heim auf. Mit eineinhalb Jahren wird sie adoptiert und lebt von da an in einer weißen Familie mit vier weiteren Geschwistern. Irgendwann bemerkt May Ayim: Ich bin anders als die anderen deutschen Kinder. Ihre Haut ist dunkler. Die Haare gekräuselter. Die Kinder in der Nachbarschaft reden über sie und ihr anderes Aussehen und in der Schule wird sie ausgegrenzt. Als schwarze Deutsche fühlt sie sich wie ein „bunter Hund“, irgendwie sei sie „exotisch“ sagen die Leute, und gleichzeitig kommt sie in der deutschen Mehrheitsgesellschaft nicht vor. Weder in Bilderbüchern und Geschichten noch bei Vorbildern. In vielen Bemerkungen und Blicken spürt sie: Man traut mir als schwarzer Frau nichts zu. Manche sagen sogar ganz unverhohlen, soweit bringen wie die Weißen würde sie es mit ihrer Hautfarbe wohl nicht. Rückblickend erzählt sie in einem Interview: „Jahrelang lebte ich mit dem Empfinden, in der deutschen Gesellschaft weder eine Geschichte noch eine Zukunft zu haben, sondern eines Tages auswandern zu müssen“. Wer an „typisch deutsch“ denkt, denkt selten an eine junge schwarze Frau aus Hamburg. May Ayim studiert Pädagogik, engagiert sich politisch und lernt die US-Amerikanische Schriftstellerin und Feministin Audre Lorde kennen. Sie beginnt ihre alltäglichen Rassismus-Erfahrungen in Gedichten und kleinen Geschichten festzuhalten. May Ayim ist eine der ersten deutschen Dichterinnen, die die Perspektive von schwarzen deutschen Frauen thematisiert. Wenn man ihre Gedichte aus den 80ern heute liest, bleibt einer das Lachen im Hals stecken. Sie sind immer noch traurig aktuell. May Ayim ist eine der Pionierinnen des kritischen Weißseins in Deutschland. In Berlin-Kreuzberg ist ein Ufer an der Spree nach ihr benannt. In Dortmund trägt seit diesem Sommer eine Straße am Hafen ihren Namen. Worte und Orte, die uns daran erinnern, dass deutsch sein mehr ist als Sauerkraut, Kartoffeln und Mülltrennung. Deutsch sein ist vielfältig. Deutschsein heißt auch schwarz zu sein. Gott* sei Dank!
Weitere Informationen: (alle Links zuletzt abgerufen am 15.11.24)
May Ayim | Digitales Deutsches Frauenarchiv
May Ayim - 100 Köpfe der Demokratie
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Redaktion: Landespfarrerin Petra Schulze