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Kirche in WDR 2 | 18.11.2024 | 05:55 Uhr
Jedes Haar und jedes Sandkorn
Heute ist wieder Montag, und weil heute Montag ist ist das Wochenende leider auch schon wieder vorbei. Tja. Und während ich im warmen Studio in ein Mikrophon spreche, laufen unten auf dem Gehweg die Mitarbeiter der Abfallwirtschaftsbetriebe in ihren orangen Jacken herum und fegen die letzten gelben Blätter zusammen. Der November hat eben eine Botschaft, die wenigstens ich gerne verdränge und die unter dem blauen Himmel des Sommers noch ganz weit weg war. Das Leben ist endlich. Und im Wirbel der fallenden Blätter weist der November nun mal genau darauf hin.
Daran habe ich neulich auch denken müssen. Da bin ich bei einem Konzert von Bob Dylan gewesen. 83 Jahre ist der inzwischen alt. Seit dem Ende der achtziger Jahre heißt seine Tour „Never Ending Tour“. Und tatsächlich spielt Dylan seitdem fast ununterbrochen Konzerte auf der ganzen Welt. Und jetzt stand er wieder da, an sein Klavier gelehnt und schnarrte von seiner Band galant geführt und von mir und tausenden anderen Musikbegeisterten umjubelt 17 Songs in die Halle. Und zwischendurch drang die bange Frage in mein Hirn: Werde ich ihn jemals wiedersehen? War das jetzt sein letztes Konzert in Deutschland?
Abschiednehmen ist schwer. Wem sag ich das. Aber zum Glück ist die Zwillingsschwester des Abschieds die Erinnerung. Bei Bob Dylan ist das leicht. Einmal seinen Rumpelsong „Things Have Changed“ in den CD-Player gelegt – und sein näselndes Krächzen ist zusammen mit seinem poetischen Genie wieder da. Das wird einmal ein großer Trost sein. Nicht nur für mich. Aber auch im Kleinen sind Erinnerungen so wichtig. Immer wenn ich einen versunkenen Apfelkuchen backe, dann ist mir, als höre ich beim Äpfel Schälen die sirrenden Geräusche, die das Küchenmesser meiner Mutter immer gemacht hat, wenn sie diesen Kuchen gerührt, den Teig in die Form gestrichen und dann die Äpfel geschnitten hat. Oder manchmal sehe ich im Traum aus dem Küchenfenster meiner Kindheit. Und, ach, da ist ja auf einmal wieder mein Vater, wie er auf seinem silbernen Torpedo-Dreigang-Fahrrad zwischen den Hausgiebeln der Nachbarn von seiner Radtour nach Hause strampelt. Seine letzte Winterjacke hat noch lange in meinem Kleiderschrank gehangen. Eine Zeitlang habe ich sie noch selbst getragen, und ich habe mir eingebildet, sie rieche noch nach ihm. Bis ich sie irgendwann Moritz gegeben habe, der bei mir geklingelt hat, weil er so gefroren hat. Ich denke an Rolf, den ich vor ein paar Wochen beerdigt habe und der seiner Frau zum Geburtstag mal ein besonderes einmaliges Geschenk gemacht hat, was ich hier nicht verraten möchte, was aber sehr lustig war und an das sich seine Frau und seine Kinder immer erinnern werden. Und ich auch, weil ich die Geschichte jetzt kenne. Und jetzt muss ich an Dylans letztes Lied bei seinem Konzert denken. „Immer, wenn ich diesen Weg gehe, höre ich meinen Namen“ hat er da wie ein alter biblischer Prophet gesungen. „Und weiter auf meiner Reise hab ich verstanden: Jedes Haar und jedes Sandkorn sind gezählt.“ Kein Haar, kein Sandkorn, nichts bleibt unbeachtet. Nichts ist egal. Was für ein gewaltiger Trost. Nicht nur im November. Und nicht nur an einem Montagmorgen