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Kirche in WDR 2 | 03.02.2025 | 05:55 Uhr
Loslassen
Als er seine Hälfte des Kleiderschranks ausgeräumt hat, sieht er sich noch einmal um. Lässt seinen Blick durch das Schlafzimmer gleiten, schaut auf das Doppelbett, in dem er so viele Jahre neben seiner Frau gelegen hat. Und in diesem Moment packt ihn die Verzweiflung wie ein Angreifer aus dem Hinterhalt. Er muss sich festhalten und ist froh, dass seine Schwester in der Nähe ist. Die hilft ihm auf einen Stuhl und bestärkt ihn in seiner Entscheidung: „Es ist richtig, dass du gehst. Dass du deine Frau verlässt. Sie tut dir nicht gut. Du musst sie loslassen!“
Da ist wieder dieses Wort: „Loslassen“. Seine Schwester hat es ihm immer wieder gesagt. Dass er seine Frau loslassen muss. Weil sie ihn ausnutzt. Das gemeinsame Geld mit vollen Händen ausgibt. Und weil sie ihn manipuliert.
Wenn sie mal wieder fremd geht, schafft sie es jedes Mal, dass er ihr verzeiht. Ihr glaubt, dass sie eigentlich nur ihn liebt. Und wenn sie ihn nicht sofort betören kann, dann erinnert sie ihn an ihren gemeinsamen Schwur: „Weißt du nicht mehr? Du hast gesagt, wir würden für immer zusammenbleiben - was auch geschieht!“
Das alles geht jetzt schon viel zu lange so. Er weiß gar nicht, wann er zum ersten Mal offen mit seiner Schwester darüber gesprochen hat. Natürlich heimlich, seine Frau durfte davon nichts mitbekommen.
Seine Schwester hat ihn nicht gedrängt. Aber als sie heute telefoniert haben, ist er in Tränen ausgebrochen. Weil seine Frau schon wieder weg ist. Seit Tagen keine Nachricht von ihr. Da sagt seine Schwester: „Pass auf. Ich fahre jetzt mit meinem Mann zu dir. Wir holen deine Sachen. Und dann kommst du erst mal zu uns.“
Er widerspricht nicht. Und eine halbe Stunde später stehen die beiden vor der Tür. Packen mit ihm gemeinsam seine Sachen. Und jetzt sitzt er hier auf diesem Stuhl und merkt, wie schwer Loslassen wirklich ist. Wie weh es tut. Und wie elendig lange es sich hinzieht.
In der Tat sind die nächsten Wochen und Monate schlimm. Der Scheidungsprozess ist eine einzige Tortur. Und trotzdem sagt er im Nachhinein: „Es war richtig!“ Er ist seiner Schwester ewig dankbar für ihre Unterstützung. Dafür, dass sie ihm geholfen hat, loszulassen. Ganz allmählich und mit vielen kleinen Schritten. Er bekommt auf diese Weise eine neue Perspektive. Und er lernt, auf eigenen Füßen zu stehen.
Insofern kann Loslassen durchaus im Sinne Gottes sein. Denn der will, dass niemand ausgenutzt wird. Und dass Beziehungen allen Beteiligten guttun. Wenn das nicht der Fall ist, dann ist loslassen eine echte Alternative.
Redaktion: Rundfunkpastorin Sabine Steinwender-Schnitzius