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Kirche in WDR 2 | 21.03.2025 | 05:55 Uhr
Starren
Ich sitze beim Arzt. Im Wartezimmer. Und mir ist langweilig. Also sitze ich einfach da. Und starre. Auf die Wand gegenüber, eine braune, unregelmäßige Backsteinwand. Und wie ich da so starre, sehe ich dort plötzlich kleine Figuren. Gesichter. Große, kleine. Besser gesagt: Ich meine, sie zu sehen. Denn natürlich sind sie nicht wirklich da. Eine optische Täuschung. Eine Art Fehlschaltung im Gehirn. Manchmal stellt der Kopf Zusammenhänge her, die gar nicht da sind. Und man erkennt Dinge, wo es eigentlich gar nichts zu erkennen gibt. Dann sieht man Schäfchen in den Wolken. Oder Gesichter auf einer Backsteinwand.
Warum macht das Gehirn so was? Weil es sicherer ist. Wenn der Urmensch durch den Wald stapft, ist es besser, wenn er im dichten Gebüsch das Gesicht eines Säbelzahntigers erkennt, der gar nicht da ist, als wenn er einen Säbelzahntiger nicht erkennt, der da ist. Weglaufen sichert das Überleben. Selbst wenn es eigentlich unnötig ist. Und heute funktioniert das eben immer noch genauso. Und besonders gut immer dann, wenn die Dinge sehr verwirrend und unübersichtlich sind. So wie heute.
Die Probleme sind groß: das Klima, Krieg, die politischen Umbrüche der letzten Zeit. Klar, dass man verwirrt ist. Und dass man in den Medien und digital mit Meinungen und Ansichten, mit echten und falschen Fakten nur so bombardiert wird, macht es noch verwirrender.
Und dann kann es eben passieren, dass sich da im Kopf Dinge ineinanderfügen, die nicht ineinander gehören. Du denkst: „Ich sehe es doch vor mir!“ Aber in Wahrheit ist das alles genauso wenig real wie die Gesichter auf der Backsteinwand im Wartezimmer. Das kann zum Problem werden: Man fühlt sich von Feinden umgeben, die nicht da sind. Man fürchtet sich vor Verschwörungen, die nur in der eigenen Wahrnehmung existieren.
In der Bibel steht (Spr. 3,5) „Vertraue auf den Herrn und verlass dich nicht auf deinen Verstand.“ Wahrscheinlich gar keine schlechte Idee. Immer dann, wenn die Verwirrung zunimmt, sich nicht allzu sehr auf den eigenen Kopf zu verlassen. Sich stattdessen an seine ganz grundsätzlichen Überzeugungen zu erinnern: An Barmherzigkeit, zum Beispiel. Nächstenliebe. Mitleid. Einfach Menschlichkeit. Denn dass man manchmal Dinge für einleuchtend hält, die in Wahrheit gar nicht da sind, das kann man wohl nicht verhindern. Aber man kann verhindern, dass man das dann auch noch zur Grundlage für seine Entscheidungen macht.
In einem Wartezimmer zu sitzen und Gesichter auf einer Backsteinwand zu sehen, die nicht da sind, ist witzig. Aber in Menschen Feinde zu sehen, wo doch nur Menschen sind, das ist dann doch eher eine Tragödie.
Redaktion: Rundfunkpastorin Sabine Steinwender-Schnitzius
