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Hörmal | 11.05.2025 | 07:45 Uhr
Alte Stimmen
Es ist Sonntag und ich sitze neben meiner Tochter in der Kirchenbank. Der Gottesdienst beginnt und der Kirchenchor singt. Nach so vielen Jahren in der Gemeinde kenne ich fast alle Chormitglieder mit Namen. Es dauert jetzt länger als früher, bis sie sich richtig nach den jeweiligen Stimmen aufgestellt haben. Der Chor ist zusammen alt geworden. Während sie sich aufstellen, fällt mir das erste Mal so richtig auf, dass sie weniger geworden sind. Mir fehlen vertraute Gesichter. Die Lücken, die das Leben geschlagen hat, sind nicht zu übersehen. Mit vielen verbinde ich Geschichten und Gespräche und gemeinsame Gottesdienste, die wir gefeiert haben.
Bei den Gedanken an die, die alle nicht mehr dabei sind, entfährt mir offenbar ein hörbares Seufzen. Meine Tochter schaut mich sogleich an und fragt: „Alles okay, Papa?“ „Ja, klar!“, beruhige ich sie und bin gerade selber überrascht, dass mich das an diesem Morgen so bewegt.
Der Chor setzt ein und füllt den Kirchenraum mit seinem Gesang. Sie singen gut, halten ihre Stimme und doch wenn man die alte Klangfülle des Chors noch im Ohr hat, weiß man, was heute nicht mehr so ist, wie es mal war.
Auf dem Weg nach Hause sagt meine Tochter: „War das nicht schön heute mit dem Chor?“ „Fand ich auch“, antworte ich, und erzähle ihr, was mir während des Gottesdienstes so durch den Kopf gegangen ist. Ein paar Schritte weiter wundere ich mich: Alle Lieder, die der Chor gesungen hat, waren Choräle. Klassiker aus dem Gesangbuch, also nichts, was meine Tochter normalerweise bemerkenswert findet. „Welches Lied hat Dir denn besonders gefallen?“ will ich also wissen. „Die Lieder waren okay, nicht so meins“ antwortet sie und lässt mich für einen Moment verwirrt zurück. „Hast Du denn nicht gesehen, wie die sich gegenseitig geholfen haben? Die haben total gut aufeinander aufgepasst und waren total lieb zueinander.“ Dann erzählt sie mir, was ihr aufgefallen ist. Wie die Chormitglieder sich gegenseitig im wörtlichen Sinne gestützt haben. Wie sie aufeinander geachtet haben, so dass die, die nicht gut lange stehen können, sich an den Altar lehnen konnten. Und wie sie dafür gesorgt haben, dass die Erblindete auf der richtigen Stufe sicher gestanden hat.
Als sie das erzählt, läuft der Auftritt des Chors vor meinem inneren Auge ab. Ich sehe nicht mehr die Lücken, sondern die Fülle, mit der dieser Chor eine Botschaft rübergebracht hat. „Eure Söhne und eure Töchter sollen weissagen, [.:.] und eure Alten sollen Träume haben“ schreibt der Prophet Joel. Vielleicht habe ich jetzt ein wenig davon verstanden, was er meint.
Redaktion: Rundfunkpastorin Sabine Steinwender-Schnitzius