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Kirche in WDR 3 | 21.05.2025 | 07:50 Uhr
Fadenkunst
Guten Morgen!
Multi-Kulti ist für viele Menschen ja inzwischen ein Reizwort, auch wenn heute der Welttag der kulturellen Vielfalt ist. Aber mir hat der Besuch einer Ausstellung dafür die Augen geöffnet. Es war im letzten Winter im Josef-Albers-Museum in Bottrop. Da war eine Ausstellung der Künstlerin Sheila Hicks zu sehen. Sheila Hicks ist Textilkünstlerin und ihre Werke könnte man mit der Frage zusammenfassen – was kann man mit einem Faden alles machen? Zum Beispiel gewebte Kunstwerke aller Art. Dabei zeigt sie in einigen ihrer Werke sogenannte „Quipus“. Das bedeutet übersetzt Knoten. Dabei geht es nicht um irgendwelche Knoten, sondern um eine eigene Schrift, eine Knotenschrift. Die verwandten bereits im siebten Jahrhundert die Inkas in Lateinamerika. Sheila Hicks nimmt durch einige ihrer Kunstwerke im wahrsten Sinne des Wortes den Faden dieser alten Tradition wieder auf und interpretiert ihn neu.
Sie verwebt und verknotet Fäden auf unterschiedlichste Art und Weise miteinander und ordnet sie auf eigene Art an. Auf den ersten Blick habe ich im Museum in Bottrop nur Fäden gesehen, aber auf den zweiten Blick habe ich bestimmte Knoten erkannt, ein Muster innerhalb der Fäden oder eine Veränderung der Fadendicke. Was auf den ersten Blick nur nach einfachen Knoten aussieht, ist in Wirklichkeit ganz anders, ist komplex und muss erst übersetzt werden, um wirklich verstanden zu werden. Das war für mich so, als ob ich eine neue Sprache lerne.
Heute am
Welttag der kulturellen Vielfalt muss ich eben daran denken:
Es braucht einen zweiten und einen dritten
Blick, um etwas Neues, Unbekanntes, ja Fremdes zu verstehen. Und ich verrate
nichts Neues, wenn ich sage: das geht mit vielen Dingen so – nicht nur der
modernen Kunst von Sheila Hicks, die alte Sprachformen in neuen Kontexten
präsentiert. Ich muss da jedenfalls auch an die Erzählungen der Bibel denken.
Die sind in einem völlig anderen kulturellen Kontext entstanden, sehr alt, und
gehen von bestimmten Voraussetzungen aus, die heute nicht mehr bekannt sind. In
der Regel braucht es auch hier Erklärungen, um diese Erzählungen zu verstehen,
wie sie damals gemeint waren und wie sie auch heute noch verstanden werden
können. Es geht darum, die Bibel ins heute zu übersetzen. Ich kann nur den Kopf
schütteln, wenn zum Beispiel biblische Texte eins zu eins gelesen werden. Da
wird dann gesagt, die Welt sei in sieben Tagen entstanden, weil es doch so da
steht. Als ob es keine Evolution gegeben hätte. Allerdings ist es natürlich
richtig: die Bildsprache der Bibel ist sehr weit weg von unserer heutigen
Kultur, dass viele Menschen sie nicht mehr ohne weiteres verstehen können. Was
braucht es also? Unter Theologen heißt das Fachwort: Historisch-kritische
Exegese. Das heißt, dass es zum Verständnis der biblischen Texte oftmals
weitere Erklärungen und Einbettungen in jeweilige kulturelle Zusammenhänge
braucht, kurz: Übersetzungen der Botschaft in die gegenwärtige Zeit. Das war
übrigens zur Zeit der jungen Kirche auch schon so und betrifft damit nicht nur
uns Menschen des 21. Jahrhunderts. Ein Beispiel aus der Apostelgeschichte (Apg
8,26-40): Der Diakon Philippus trifft einen Mann aus Äthiopien, der in der
Heiligen Schrift etwas über den Propheten Jesaja liest. Philippus fragt ihn:
Verstehst du auch, was du liest? Als dieser verneint, legt ihm Philippus die
Schrift aus. Der Äthiopier muss so begeistert gewesen sein, dass er schließlich
getauft werden will. Offenbar ist in diesem Gespräch der beiden über die Heilige
Schrift etwas geschehen, das den Äthiopier überzeugt. Er hat verstanden und
kommt zum Glauben. Auch hier braucht es jemanden, der auslegt, erklärt,
übersetzt und Hinweise gibt, wie bei der Übersetzung der Knotenschrift im
Kunstwerk von Sheila Hicks in ihrer Ausstellung im Josef-Albers-Museum in
Bottrop. Und: Es braucht die Bereitschaft: schau noch einmal hin, hör noch
einmal hin. Hinter den Dingen steckt viel mehr als Du denkst.
Aus Gladbeck grüßt Sie Meike Wagener