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Kirche in WDR 3 | 18.06.2025 | 07:50 Uhr
Ameisengarten
Es klingt ganz leicht, ganz sanft. Die Gitarren, das Glockenspiel. Irgendwann kommt die Stimme dazu – eindringlich, fast beschwörend. Immer wieder dieselbe Zeile. Fast wie ein Mantra: Keine Alarme. Keine Überraschungen. Dieses Lied von Radiohead hab’ ich Ende letzten Jahres rauf und runter gehört. Da sind so Songs, die begleiten mich in bestimmten Phasen ganz intensiv. „No surprises“ war mein Winterhit 2024. Und der Winter war … voll. Seit August bin ich in einer neuen Stelle: Schulseelsorger am Kardinal-von-Galen-Gymnasium in Münster. Über 1000 neue Gesichter. Neue Abläufe. Neue Stimmen. Neue Wege. Und was soll ich sagen? Ich liebe es! Ich mach‘ das richtig gerne.
Aber: Es ist auch anstrengend. Weil so vieles neu ist. Weil ich ständig improvisieren muss. Weil ich noch nicht weiß, wie lange Dinge dauern – und ob ich genug Zeit habe, um allem gerecht zu werden. Aber was zu tun ist, ist zu tun. Kopf in den Sand bringt nichts. Ich will ja auch ‘nen guten Job machen. Sei es in Pausen mit Schülerinnen und Schülern, in Social Media, bei Gottesdiensten, in der Begleitung von Fahrten oder im Lehrerzimmer. Und trotzdem – zum Jahresende hin habe ich mir manchmal einfach nur weniger Überraschungen gewünscht. Keine neuen Aufgaben. Keine neuen Formate. Keine Alarme, keine Überraschungen. Und dann ist mir etwas aus meiner Kindheit eigefallen. Etwas, das mir früher beim Abschalten geholfen hat: Der „Ameisengarten“. Klingt spektakulär – war es aber nicht. Eine Freifläche hinter den Garagen in unserer Straße. Ein paar alte Bretter. Morsches Holz. Ein Kirschbaum. Viel Erde. Noch mehr Ameisen. Der Ameisengarten war unsere Anderswelt. Stefan, Anne und Sabrina und ich: Wir haben da gespielt. Stundenlang. Freiheit pur. Ständig der Plan, eine Höhle zu bauen. Hat nie geklappt. Aber das war völlig egal. Im Ameisengarten war ich Entdecker. Kolumbus im Hinterhof. Ein Abenteurer in einer fremden Welt – mitten in der echten.
Als Erwachsener verschwinden ja diese Ameisengärten. Die echte Welt umfängt total. Solche Andersorte fehlen mir heute. Aber dafür habe ich etwas anderes: Musik. Ohrhörer rein. Welt aus. Das Lied wird zur Decke, in der ich mich verkriechen will. Wie ein Ozean, der mich bedeckt und den Lärm ausstellt. Den Lärm in meinem Kopf und den Lärm um mich herum. No alarms and no surprises.
Ohne Ameisengarten ist das mein Rückzugsort. Unterwegs. Im Bus. Auf dem Fahrrad. Beim spazieren oder einfach auf der Bank. Das passende Lied kann sogar zum Gebet werden.
Was ist ihr Rückzugsort?
Ich grüße Sie aus Münster.
Ihr Stephan Orth.