Beiträge auf: wdr3
Choralandacht | 04.04.2015 | 07:50 Uhr
DIESER BEITRAG ENTHÄLT MUSIK, DAHER FINDEN SIE HIER AUS RECHTLICHEN GRÜNDEN KEIN AUDIO.
Du großer Schmerzensmann (eg 87)
Autorin: Karsamstag ist heute. Nicht mehr Karfreitag, noch nicht Ostern: Eine Art Niemandsland zwischen Passionszeit und Osterfest. Karsamstag: In der biblischen Erzählung der Tag des Begräbnisses. Der Tag der begrabenen Hoffnung. Die Silbe Kar kommt vom althochdeutschen Kara. Das bedeutet Klage, Kummer, Trauer.
Wie ein stiller Protest dagegen leuchten in vielen Gärten seit Tagen die bunten Plastikeier. Es ist, als könnten die Menschen es nicht erwarten, dass die Natur nach den langen Wintermonaten endlich wieder farbig wird. Genug von Elend und Not und Tod. Genug von Kara – von Klage, Kummer und Trauer.
In dieses „Genug“ hinein erklingt heute ein Choral aus dem 17. Jahrhundert. Er erlaubt uns nicht, zu fliehen. Er stellt uns das Kreuz Jesu vor Augen. Sinnbild für alles Leid, das Menschen ertragen. Er nötigt uns, dem standzuhalten. Zwingt uns, zu bleiben.
MUSIK II (Strophe 1)
Du großer Schmerzensmann, vom Vater so geschlagen, Herr Jesu, dir sei Dank
für alle deine Plagen: Für deine Seelenangst, für deine Band und Not, für deine Geißelung, für deinen bittern Tod.
Wir sehen Christus am Kreuz, unzählige Male dargestellt in der bildenden Kunst.
Manchmal als souveräner König, meistens als jämmerlich leidende Figur. Die Bilder von Christus am Kreuz sind durchscheinend für aktuelle Bilder. Bilder von Männern, Frauen und Kindern, die leiden.
Sprecher: (mit Instrumentalmusik unterlegt: Musik III)
Du blasse Schmerzensfrau, entwurzelt und gestrandet, nach langem Lebensweg nun auf dem Strich gelandet. Die Augen blicken leer, zerstochen Arm und Hand. Die Armut trieb dich ab aus deinem Heimatland.
Du dürres Schmerzenskind, seh dich am Boden liegen. Dein Mund zu schwach zum Schrei´n, dein Kopf besetzt von Fliegen. Rettung ist nicht in Sicht. Du lebst am falschen Fleck. Die Rüstung, die uns drückt,frisst dir das Breichen weg. (Text: Gerhard Schöne) (1)
Autorin: Das Kreuz Jesu: Sinnbild für alles Schlimme und Grausame, was Menschen ertragen müssen. Inbegriff dessen, was Menschen einander antun.
Sie sind weggelaufen damals. Weil sie den Anblick des Leidens nicht aushalten konnten. Weil sie ihrer eigenen Schuld davonrennen wollten. Augen zu. Nur weg von hier. Das ist zu hart. Wer von uns kennte das nicht?
MUSIK I (Strophe 1)
Du großer Schmerzensmann, vom Vater so geschlagen, Herr Jesu, dir sei Dank
für alle deine Plagen
Autorin: Viele weigern sich, so zu singen. Das Ganze ist ihnen zu fremd, zu brutal. Was ist das für ein Gott, der seinen Sohn schlägt und zu Tode quält? Und was sind das für Menschen, die dem Sohn für seine Qualen danken? Ich soll einstimmen und „Du“ sagen. So wie der Dichter des Liedes es tut.
Adam Thebesius lebte zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Er war Pfarrer in Schlesien. Der Dichter galt als großer Beter. Vier seiner acht Kinder starben: Zwei Töchter an der Pest; die dritte kam durch einen Unfall ums Leben. Und bei der Geburt des jüngsten Sohnes starb seine Ehefrau. Auch sein Choral ist ein Gebet; Zwiesprache mit dem Gekreuzigten. „Du“ sagt er. Und bleibt. Weil er ahnt: Das Leiden des Gekreuzigten hat mit mir zu tun. Mit uns.
MUSIK II (Strophe 2)
Ach das hat unsre Sünd und Missetat verschuldet, was du an unsrer Statt,
was du für uns erduldet. Ach unsre Sünde bringt dich an das Kreuz hinan;
o unbeflecktes Lamm, was hast du sonst getan?
Autorin: In beinahe allen Kulturen gibt es das religiöse Ritual des Menschenopfers. Ob bei Germanen oder Kelten; ob in China oder auf Hawaii: Unschuldige werden getötet, um Schuld zu sühnen oder Götter günstig zu stimmen. Ein erschreckender Gedanke, dass es auch zwischen Gott und uns so sein soll. Ist der liebe Gott also gar nicht lieb? Nun, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass „lieb“ seine harmlose Eigenschaft wäre. Gott liebt uns und seine verletzte, zerstrittene Welt. Er leidet an ihr und mit ihr.
Nicht Gott muss versöhnlich gestimmt werden. Sondern wir, seine Menschen, brauchen Versöhnung. Die Schuld, die Menschen auf sich laden und in die wir alle auf unsere Weise verstrickt sind, kann niemand von uns nehmen als Gott allein.
Am Kreuz Jesu Christi stirbt nicht das Menschenopfer für einen beleidigten Gott.
Am Kreuz Jesu Christi stirbt Gott selbst.
Sprecher: O große Not! Gott selbst liegt tot. Am Kreuz ist er gestorben.
Autorin: So klagt ein anderer Passionschoral. Spätere Bearbeiter des Textes fanden diese Vorstellung so schockierend, dass sie flugs umdichteten: Gott´s Sohn liegt tot.(EG 80,2)
Das im Wortsinn Unglaubliche ist nun aber tatsächlich: Gott selbst wirft sich in die Bresche. Fordert nicht Opfer, sondern gibt sich hin. Wahrlich kein harmlos „lieber Gott“! Ein Gott, der die Welt auf erschütternde Weise liebt.
MUSIK II (Strophe 3)
Dein Kampf ist unser Sieg, dein Tod ist unser Leben; in deinen Banden ist die Freiheit uns gegeben.Dein Kreuz ist unser Trost, die Wunden unser Heil,dein Blut das Lösegeld, der armen Sünder Teil.
Autorin: Martin Luther hat es einmal einen „seligen Tausch“ genannt: Du, Christus, für uns. An unserer Stelle. Für jeden einzelnen leidenden Menschen. Ein kleine Szene werde ich nie vergessen: Ich war als junge Pastorin noch ganz neu in meiner ersten Gemeinde und besuchte ein alte Dame. Sie hatte Magenkrebs im Endstadium. Ein Bild des Jammers: Da lag eine wahre „Schmerzensfrau“, vom Tode gezeichnet. Über ihrem Bett die Konfirmationsurkunde mit Frage 1 des Heidelberger Katechismus:
Sprecher: Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben? Dass ich mit Leib und Seele im Leben und im Sterben nicht mir, sondern meinem getreuen Heiland Jesus Christus gehöre.
Autorin: Mit ihrer ausgemergelten Hand zeigte die todkranke Frau in die Höhe und sagte: „Frau Pastorin, ohne den da oben könnte ich das hier nicht aushalten. Aber ich weiß: Der bleibt bei mir.“ Am Ende des Besuches ging ich getröstet wieder weg. Die Frau hatte mir von ihrem Trost weitergegeben. Ein Trost, der sogar dem Tod etwas entgegenzusetzen hat. Noch im Sterben behält er seine Kraft.
Sprecher (unterlegt mit MUSIK III)
Lass deine Wunden sein Die Heilung unsrer Sünden, lass uns auf deinen Tod den Trost im Tode gründen. O Jesu, lass an uns durch dein Kreuz, Angst und Pein dein Leiden, Kreuz und Angst ja nicht verloren sein.
Musikinformationen:
Musik I
CD: O Haupt voll Blut und Wunden – Lieder zur Passion / Track 7
Titel: Du großer Schmerzensmann (Chor)
Interpret: Das Solistenensemble
Leitung: Gerhard Schnitter
Komponist: Jan Martin
Texter: Adam Thebesius
Verlag: Hänssler
Musik II
Titel: Du großer Schmerzensmann (Chor)
Interpret: Rheinische Kantorei
Leitung: Herrmann Max
Komponist: Johann Sebastian Bach
Texter: Adam Thebesius
Musik III
CD-Name: Lieder der Stille – Gitarren Choräle
Interpreten: Daffy (Western-Gitarre und Dobro), Thomas Knodel (Konzert-Gitarre und Dulcimer), Martin Lampeitl (Wester- und Jazz-Gitarre), Helmut Krüger (Western- und Konzert-Gitarre)
Verlag: SJ Entertainment
Literatur:
(1) Der Text von Gerhard Schöne findet sich auf der CD "Ich bin ein Gast auf Erden", 1991 Buschfunk.