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Kirche in WDR 3 | 17.11.2015 | 07:50 Uhr
Weltuntergangsstimmung
Guten Morgen,
als katholischer Priester beginnt mein Tag meist mit den Lesungen aus der Bibel, die für jeden Tag vorgesehen sind. Und in diesen Texten herrscht derzeit Weltuntergangs-stimmung. Das hat damit zu tun, dass bald das Kirchenjahr endet und dass diese Texte also dran sind in der Leseordnung der katholischen Kirche. Es sind düstere Texte, die vom bevorstehenden Weltende berichten, Texte, die über Jahrhunderte Angst und Schrecken unter den Menschen verbreitet haben – und dann zu so einer dunklen Jahreszeit!
Was durch all diese Texte spricht: Einmal wird es vorbei sein mit dieser Welt! Doch irgendwie ist es mir in diesen Tagen komisch mit all‘ der kirchlichen Endzeitstimmung. Zu real liegt mir das, was ich in den Texten lese, gerade medial in den Ohren. Endzeit in Echtzeit: Mord, Totschlag, Hass, Gewalt, Ausgrenzung, Flucht, Krieg – all‘ das begegnet mir, wenn ich den Fernseher nur einschalte. Und das nicht erst seit den fürchterlichen Anschlägen in Paris. Auch zuvor schon waren die Nachrichten in diesem Jahr voll mit immer wieder neuen Hiobsbotschaften. Das Grauen ist, so habe ich das Gefühl, zu einem Dauerzustand geworden. Keine Nachrichtensendung mehr ohne solche Katastrophenmeldungen, keine Zeitung mehr ohne seitenlange Schilderungen von Not und Elend – weit weg, irgendwo in der Welt oder in meiner unmittelbaren Nachbarschaft.
Und wenn es nicht gerade so dramatisch ist wie am Wochenende, beschleicht mich das Gefühl, als werde es mir einerlei mit all‘ diesen Katastrophen. Mir macht selbst Angst, dass mich solche Meldungen oft genug nicht mehr wirklich berühren. Wurde ich früher bei einem tödlichen Autounfall schon hellhörig und traurig ob des Todesopfers, werden Tote langsam aber sicher zu einer bloßen Zahl: 50, 100, 2000, 40.000, 100.000... Irgendwie wird das alles zu einer nach und nach wachsenden Masse, in der man irgendwann einmal schlicht den Überblick verliert und sich nur noch an Spitzenwerten des Grauens orientiert.
Ist das Abstumpfung? Was passiert da mit mir? Und: Wie kann ich mir eine Feinfühligkeit bewahren für die wahre Not, die mich auch berührt?
Sicher ist: ich will das nicht. Ich will nicht in Weltuntergangsstimmung verfallen. Den Kopf fatalistisch in den Sand stecken und sagen: hilft ja alles nix mehr. Ist doch eh alles verloren.
Mir hilft es, bewusst dagegen zu beten: „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“
Das Gebet wird dem amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr zugeschrieben. Es tauchte im Zweiten Weltkrieg auf. Und es hilft, den Blick auf das Wesentliche zu richten: Den Raum der eigenen Möglichkeiten nicht zu groß zu schätzen, aber auch nicht zu klein. Es ist wahrlich gerade nicht die Zeit, um den Kopf in den Sand zu stecken. Sondern ganz konkret mit daran zu arbeiten, dass das die Spuren des Guten in der Welt nicht verloren gehen. Und den Rest, den muss ich auf eine Art abgeben. All das, was auch meine Vorstellungen von Grauen übersteigt. Und meine Ängste davor. Das kann ich nicht lösen, das kann ich abgeben an ihn, der einmal gesagt hat:
„Fürchte dich nicht, ich habe dich beim Namen gerufen, du gehörst mir!“ Und das lässt mich hoffen – vor allem für die, die derzeit in größter Not leben. Das lässt mich hoffen, dass Gott die vielen Opfer tagtäglich, auch die von Paris, auch die acht gewaltsam zu Tode gekommenen Babies von Wallenfels bei ihrem Namen ruft und sie nicht verloren gehen lässt.
Einen Tag ohne Angst wünscht Ihnen Ihr Pfarrer Ulrich Clancett aus Jüchen.