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Kirche in WDR 3 | 10.12.2015 | 07:50 Uhr
Der Ruf des Lebens
Guten Morgen! „Steh auf!“ – „Brich auf!“ So ruft Gott immer wieder Einzelne auf. In der Bibel kann ich das nachlesen. Er ruft das Jungen und Ungebundenen, Älteren und „Gutsituierten“ zu. „Steh auf!“ „Brich auf!“
Was in der Bibel Impulse Gottes sind, bezeichnet der Dichter Hermann Hesse als den „Ruf des Lebens“. Und dieser „Ruf des Lebens“ an uns „wird niemals enden“, schreibt er. Das klingt schön und poetisch. Die Realität aber, die dahinter steht, empfinde ich bisweilen als ganz schön hart. Denn sie heißt: Das Leben eignet sich nicht, um sich häuslich einzurichten. Im Gegenteil: Es stellt uns ständig vor neue Herausforderungen, es verlangt von uns, Wendepunkte zu meistern und Übergänge zu gestalten. Von einer Lebensphase in die andere zum Beispiel: Wenn die Kinder aus dem Haus gehen, die Pensionierung ansteht oder auch ganz klassisch: die Phase der Lebensmitte. „Klassisch“, weil wir dafür sogar einen Begriff haben, die „Midlife-Crisis“. Was wir, manchmal augenzwinkernd, so nennen, das beschreibt, was allen Übergangszeiten gemeinsam ist: Übergangszeiten sind Krisenzeiten.
Ich spüre mehr, als mein Kopf begreifen will: Da ist etwas zu Ende gegangen. Lautlos. Schleichend. Was mir gestern noch selbstverständlich war, gilt heute nicht mehr. Zu einer Arbeit, die mich erfüllt hat, spüre ich plötzlich eine seltsame Distanz. In einer Beziehung, die mir gefestigt schien, entdecke ich auf einmal Risse, keine großen, aber ich kann sie trotzdem nicht mehr ignorieren. Anstrengungen, die ich bis vor kurzem noch locker weggesteckt habe, hinterlassen jetzt Spuren – im Gesicht und auf der Seele. Und manchmal will das betrauert sein.
Aber was vielleicht das Schwierigste ist: Wenn etwas zu Ende ging, dann heißt das zwar, dass es auf den alten Wegen nicht mehr weiter geht. Aber auf welchen dann?
Im Märchen muss sich der Held durch ein Labyrinth kämpfen, ehe er einen Ausweg sieht. Genau so habe ich Übergangssituationen schon erlebt – wie ein Labyrinth. Ich kann nicht sehen, wo ich stehe, wo es für mich weiter geht, welcher Weg der richtige ist. Von Orientierung keine Spur – stattdessen Fragen, denen ich nicht ausweichen kann: Wo stehe ich eigentlich? Bin ich da, wo ich hinwollte? Habe ich bis hierher wirklich mein Leben gelebt oder nur Erwartungen erfüllt? Was kann ich und – was will ich eigentlich? Übergangszeiten. Krisenzeiten.
Im Märchen kann man sich darauf verlassen: Der Held wird es schon schaffen. Er wird seinen Weg durch’s Labyrinth finden. Aber im richtigen Leben? In meinem Leben? Wenn ich es recht sehe, eigentlich auch! Denn wenn ich zurückschaue, dann waren da durchaus lange, auch quälende Zeiten, in denen ich mich neu orientieren musste. Aber irgendwann war da immer auch die Erfahrung: Jetzt habe ich’s gepackt. Jetzt weiß ich weiter. Manchmal ganz unvermittelt. Manchmal über Nacht. Und wie der Held, der im Märchen den Irrgarten durchschritten hat, nicht mehr derselbe ist wie vorher, hatte auch ich immer den Eindruck: Diese Krisenzeit ist nicht spurlos an mir vorüber gegangen. Ich bin auch an ihr gewachsen.
Und darum sind solche Wendepunkte in meinem Leben für mich auch Zeiten, in denen ich Gott erfahren kann. In diesem ständigen „Ruf des Lebens“, diesem „Steh auf!“, „Brich auf!“ – damit du weiterkommst, damit du deine Möglichkeiten kennen lernst und die Chance hast, zu wachsen, zu reifen. Gott geht mit durch das Labyrinth. Er stellt mir Menschen an die Seite, die mich aushalten, auch wenn ich gerade keine Strahlefrau, kein Strahlemann bin.
Oder er steckt in der Kraft für den nächsten oder übernächsten Schritt. Oder einfach im rechten Wort zur rechten Zeit. Gott fordert Menschen nicht nur immer zum Weitergehen auf, er hat auch versprochen: Ich bin mit dir. Dass Sie und ich davon etwas in unserem Alltag spüren, wünscht sich Ihr Pfarrer Michael Opitz aus Düsseldorf.