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Kirche in WDR 3 | 06.05.2017 | 07:50 Uhr
Wahrheit
Guten Morgen!
Vielleicht erinnern Sie sich noch an Vaclav Havel. Ja, der tschechische Schriftsteller, Philosoph und Regimekritiker im Widerstand gegen den Kommunismus. Immer wieder landete er im Gefängnis. Als aber die Tschechen 1989 ihr Regime loswurden, kam Havel an die Spitze des Staates. Als Präsident hatte er ein großes Thema: Wahrheit und Lüge. Die alte Herrschaft, die wir jetzt hinter uns haben, so sagte er sinngemäß, war auf Lügen aufgebaut, auf Propaganda und Betrug. Alle großen Worte wie `Frieden´ oder `Recht´ oder `Freiheit´ waren missbraucht, entstellt und verhunzt. Das Neue, das wir jetzt schaffen, darf so nicht enden: in der Lüge.
Gut, wenn es noch solche Politiker gibt! Viele gehen ja heutzutage mit der Wahrheit sehr locker um. In Amerika sind die Begriffe der „alternativen Fakten“ und der „Fake News“ aufgekommen. Das sind schöngefärbte Worte für Lüge, für Falschmeldungen. Es wurde und wird gelogen, dass sich die Balken biegen. Man sagt zwar: Lügen haben kurze Beine – aber offensichtlich kann man auch „auf kurzen Beinen“ sehr weit kommen! Man lügt ohne schlechtes Gewissen. Die Lüge ist salon- und hoffähig geworden.
Gibt es da noch Menschen, die leidenschaftlich nach der Wahrheit suchen? Zweifellos – aber sie haben es schwer. Ihr Weg zur Wahrheit führt durchs Dickicht. Sie müssen sich eine Schneise schlagen. Etwa durch den Wald der bloßen Meinungen, die immer emotionaler, immer mehr „aus dem Bauch heraus“ daherkommen. Selbst der Klimawandel wird geleugnet; auch er ist für bestimmte Kreise nicht mehr als eine Meinung. In Talkshows stoßen solche Meinungen der verschiedenen Lager, der Weltanschauungen und Parteien lauthals aufeinander. Nachdenklichkeit und der Wille zum Verstehen und zum Dialog bleiben da oft auf der Strecke.
Gibt es überhaupt noch die Wahrheit? Die Welt ist so komplex, so unübersichtlich und kompliziert geworden, dass vielen „die Trauben der Wahrheit zu hoch hängen“. Sie sagen: „Das ist meine Wahrheit, mit der ich lebe, und du hast deine Wahrheit, mit der du klarkommen musst. Wir sind da halt geteilter Meinung!“ Meine Wahrheit – deine Wahrheit: Wahrheit zerfällt da in viele Wahrheiten, sie droht ganz subjektiv und beliebig zu werden.
Andere sehnen sich deshalb immer mehr nach der einen Wahrheit: Es muss doch etwas Grundlegendes geben, etwas, das alle verbindet und Halt gibt! Etwas, das nicht im jeweiligen Zeitgeist, nicht in den Meinungen und Moden aufgeht – und auch nicht von Mehrheitsabstimmungen abhängt. Über die Wahrheit kann man nicht abstimmen.
Man kann aber auch nicht zur Wahrheit hin zwingen. Der Schweizer Dichter Max Frisch sagt sehr treffend: „Man sollte die Wahrheit dem anderen wie einen Mantel hinhalten, dass er hineinschlüpfen kann – und nicht wie ein nasses Handtuch um den Kopf schlagen!“
Ein solcher Mantel ist für mich der Glaube. Er wärmt und schützt. Manchmal kann er auch einengen und kratzen. Aber vor allem kann der Glaube die Suche nach der Wahrheit wach halten!
Für Christen verbindet sich die Wahrheit nicht mit einem Gedankengebäude, sondern mit einer Person, mit einem Gesicht. In Jesus Christus finde ich die Wahrheit, die meinem Leben eine Richtung gibt. Das Leben schenkt einem ständig genug Gelegenheiten, diese Wahrheit zu erproben und einzuüben. Die Wahrheit üben! Ich denke an eine fast 90jährige Ordensschwester, die mir sagte: „Ich übe immer noch.“ Sie versucht immer noch, den Lebenslügen zu entgehen, ohne Fassaden auszukommen, und hält sich an Worte Jesu wie: „Euer Ja sei ein Ja, euer Nein sei ein Nein“ (Mt 5,37). Oder: „Die Wahrheit wird euch frei machen“ (Jo 8,32). Sie befreit dann nämlich davon, die eigene Wahrheit – meine Wahrheit –„zu vergöttern“ und sich in ihr zu verrennen.
Ihnen Freude und Mut, die Welt der bloßen Meinungen zu überschreiten – und sich an die Wahrheit heranzutrauen.
Das wünscht Johannes Broxtermann aus Lüdenscheid.